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Informationsreduktion 7: Mikro- und Makrozustand

Beispiele von Informationsreduktion

In den bisherigen Texten haben wir Beispiele von Informationsreduktion in folgenden Gebieten angesehen:

  • Kodierung / Klassifizierung
  • Sinneswahrnehmung
  • Fallpauschalen
  • Meinungsbildung
  • Wärmelehre

Was ist gemeinsam?

Mikro- und Makrozustand

Allen diesen Beispielen ist gemeinsam, dass wir bezüglich Informationen zwei Zustände haben, einen Mikrozustand mit vielen Details und einen Makrozustand mit wesentlich weniger Information. Sehr anschaulich und den meisten noch aus der Schule bekannt, ist das Verhältnis der beiden Ebenen in der Wärmelehre.

Beide Zustände existieren gleichzeitig. Sie betreffen weniger das betrachtete Objekt, als vielmehr die Sichtweise des Betrachters. Will er viel wissen? Oder weniger? Oder gar nur die Essenz, beziehungsweise das, was für ihn die Essenz darstellt? Je nach dem richtet sich sein Blick mehr auf die vielen Details des Mikrozustandes oder die einfache Information des Makrozustandes.

Mikro- und Makrozustand in der Informationstheorie

Die Bedeutung von Mikro- und Makrozustand wurde zuerst in der Wärmelehre erkannt. Meines Erachtens handelt es sich aber um ein ganz allgemeines Phänomen, das eng mit dem Prozess der Informationsreduktion verknüpft ist. Insbesondere bei der Untersuchung von Informationsverarbeitung in komplexen Situationen ist es hilfreich, die beiden Zustände zu unterscheiden.
Überall dort, wo die Informationsmenge reduziert wird, kann ein Mikro- und ein Makrozustand unterschieden werden. Dabei ist der Mikrozustand derjenige, der mehr Information enthält, beim Makrozustand ist die Informationsmenge reduziert.

Der detailreichere Mikrozustand gilt als «realer»

Je mehr Details wir sehen, umso besser glauben wir eine Sache zu erkennen. Deshalb sehen wir den detailreichen Mikrozustand als die eigentliche Realität an. Der Makrozustand ist dann entweder eine Interpretation oder eine Konsequenz des Mikrozustandes.

… aber der informationsarme Makrozustand interessiert mehr

Bemerkenswerterweise sind wir am informationsarmen Zustand aber mehr interessiert als am Mikrozustand. Die vielen Details des Mikrozustandes sind uns zu viele. Entweder sind sie uninteressant (Wärmelehre, Sinneswahrnehmung) oder sie verhindern die gewünschte klare Sicht auf das Ziel, für das der Makrozustandes steht (Kodierung, Klassifizierung, Meinungsbildung, Fallpauschalen).

Seltsamer Antagonismus

Es besteht somit ein seltsamer Antagonismus zwischen den beiden Zuständen: Während wir den einen als realer ansehen, sehen wir den anderen als für uns relevanter an. So als stünden real und relevant im Gegensatz zueinander. Je realer, d.h. detailreicher die Sichtweise wird, umso irrelevanter erscheint die einzelne Information, und je intensiver die Sichtweise sich um Relevanz bemüht, umso mehr löst sie sich von der Realität. Dieses paradoxe Verhältnis von Mikro- zu Makrozustand ist charakteristisch für alle Verhältnisse von Informationsreduktion und zeigt die Bedeutung aber auch die Herausforderung, die solche Prozesse an sich haben.

Gibt es Unterschiede zwischen den informationsreduzierenden Prozessen?

Auf jeden Fall. Gemeinsam ist ihnen nur, dass eine Darstellung auf einer detailreichen Mikro- und informationsarmen Makroebene möglich ist und die Makroebene meist relevanter ist.

Solche Prozesse beinhalten immer eine Informationsreduktion, aber die Art, wie reduziert wird, unterscheidet sich. Es ist nun äusserst erhellend, die Unterschiede genauer zu untersuchen. Die Unterschiede spielen nämlich entscheidend in viele Belange hinein. Mehr dazu im Fortsetzungsbeitrag.


Dies ist ein Beitrag zu einer Serie über Informationsreduktion. Der vorhergehende Beitrag beschäftigte sich mit Informationsreduktion in der Wärmelehre.


 

Informationsreduktion 6: Das Wasserglas, revisited

Ist das Physik?

In meinem Beitrag Informationsreduktion 5: Das klassische Wasserglas habe ich als Beispiel für die Informationsreduktion das Wasserglas erwähnt. Dort reduziert sich die komplexe und detailreiche Information über die Bewegungsenergie der Wassermoleküle (Mikroebene) zur simplen Information über die Temperatur des Wassers.

Ein Physiker könnte dieses Beispiel natürlich kritisieren. Zu Recht, denn das Wasserglas ist viel komplizierter. Die Berechnungen von Boltzmann gelten nur für das ideale Gas, also für ein Gas, dessen Moleküle keine Interaktionen untereinander haben, ausser den Stössen, die sie untereinander erfahren und dabei ihre individuellen Bewegungsinformationen untereinander austauschen.

Ein ideales Gas

Ein solches Gas existiert auf der Erde nicht, es handelt sich um eine Idealisierung. Zwischen den einzelnen Molekülen existieren nämlich noch ganz andere Kräfte als die rein mechanischen. Im Wasserglas sowieso. Denn Wasser ist kein Gas, sondern eine Flüssigkeit, und weil zwischen Molekülen in Flüssigkeiten viel stärkere Bindungen existieren als zwischen Gasmolekülen, komplizieren diese zusätzlichen Bindungen das Bild.

Wasser

Beim Wasser ist es darüber hinaus nochmals besonders. Denn das Wassermolekül (H2O) ist ein starker Dipol, d.h. dass es einen starken elektrischen Ladungsunterschied zwischen seinen beiden Polen aufweist, dem negativ geladenen Pol mit dem Sauerstoffatom (O) und dem positiv geladenen Pol mit den beiden Wasserstoffatomen (H2). Diese starke Polarität führt dazu, dass sich mehrere Wassermoleküle aneinander lagern. Wenn solche Zusammenballungen auf Dauer bestehen würden, wäre das Wasser keine Flüssigkeit, sondern ein fester Stoff (wie Eis). Da die Zusammenballungen aber nur temporär sind, ist das Wasser eine Flüssigkeit, allerdings eine besondere, die sich ganz speziell verhält. Siehe dazu z.B. die aktuelle Forschung von Gerald Pollack.

Physik und Informationswissenschaft

Ein Physiker hätte das Wasserglas also wohl kaum als Beispiel gewählt. Ich möchte es allerdings nicht ändern. Um das Verhältnis zwischen der Information auf dem Mikro- und dem Makrozustand zu erklären, eignet sich das Wasserglas genauso gut. Boltzmanns Berechnungen stimmen zwar nur noch ungefähr, aber seine These bleibt: Die Temperatur eines Gegenstands ist auf der Makroebene die Information, die die vielen Informationen über die chaotischen Bewegungen der einzelnen Moleküle der Mikroebene quasi zusammenfasst.

Für einen Physiker ist das Wasserglas ein schlechtes Beispiel. Für einen Informationsphilosophen macht es aber keinen Unterschied. Ob ideales Gas oder Wasserglas, immer besteht ein Informationsgefälle zwischen dem Makrozustand und dem Mikrozustand. Darauf kommt es an. Im Wasserglas enthält der Mikrozustand Milliarden mal mehr Informationen als der Makrozustand. Und obwohl der Mikrozustand informationsmächtiger ist, interessiert uns der Makrozustand interessanterweise mehr.

Wie verläuft der Übergang?

Wie verläuft nun der Übergang vom Mikro- zum Makrozustand in den verschiedenen Fällen?  Offensichtlich verläuft er im Wasserglas wegen den speziellen Eigenschaften des H2O – Moleküls etwas anders als beim idealen Gas. Und in unseren weiteren, völlig unphysikalischen Beispielen Klassifizierung, Begriffsbildung und Framing verläuft dieser Übergang vom Mikro- zum Makrozustand nochmals völlig anders, und auf diese Besonderheiten sollten wir jetzt eingehen. Siehe dazu den Fortsetzungsbeitrag.


Zum Thema Informationsreduktion finden Sie hier die Übersichtsseite.


 

Informationsreduktion 5: Das klassische Wasserglas

Informationsreduktion in der Wärmelehre

In der Wärmelehre findet sich ein ganz besonderes Beispiel für die Informationsreduktion. Das Beispiel ist deshalb besonders, weil es so einfach ist. Es zeigt das Grundgerüst der Informationsreduktion in aller Deutlichkeit, ohne die Komplexität anderer Beispiele, z.B. solchen aus der Biologie. Es ist vielen von uns auch aus dem Physikunterricht bereits bestens bekannt.

Was ist Temperatur?

Ein Wasserglas enthält viele Wassermoleküle, die sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten in unterschiedlichen Richtungen bewegen, dabei immer wieder mit anderen Wassermolekülen zusammenstossen und bei jedem Stoss Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung ändern. Mit anderen Worten: Das Wasserglas ist der typische Fall eines realen Objektes, das eine von aussen unüberblickbare Informationsmenge enthält.

Das ist die Darstellungsweise mit den Wassermolekülen. Was ist nun die Temperatur der Flüssigkeit im Wasserglas?

Wie Ludwig Boltzmann erkannte, ist die Temperatur nichts anderes als die Folge der Bewegungen der vielen einzelnen Einzelmoleküle in einem Gasbehälter oder einem Wasserglas. Je schneller sie sich bewegen, umso mehr Energie haben sie und umso höher wird die Temperatur.

Wie er zeigte, lässt sich die Temperatur statistisch eindeutig aus den Bewegungsenergien der vielen Moleküle berechnen. Milliarden von Molekülen mit ihren dauernden Bewegungsänderungen ergeben genau eine Temperatur. Aus vielen Informationen wird eine.

Die Mikroebene und die Makroebene

Bemerkenswerterweise kann auf der Ebene der einzelnen Moleküle nicht von Temperatur gesprochen werden. Dort findet sich nur die Bewegung der vielen einzelnen Moleküle, die sich bei jedem Stoss ändert, abrupt und z.T. massiv. Die Bewegungsenergie der Moleküle ist abhängig von ihrer Geschwindigkeit und ändert sich entsprechend bei jedem Stoss mit.

Obwohl sich auf der Mikroebene der Wassermoleküle die Bewegungen dauernd ändern, bleibt auf der Makroebene des Wasserglases die Temperatur vergleichsweise konstant. Und für den Fall, dass sich die Temperatur ändert, weil z.B. Wärme vom Wasser an die Wände des Glases abgegeben wird, gibt es Formeln, die die Bewegung der Wärme und somit die Temperaturänderung berechnen lassen. Diese Formeln bleiben auf der Makroebene, d.h. sie kommen ganz ohne den Einbezug der vielen und komplizierten Stösse und Bewegungen der Wassermoleküle aus.

Man kann den Temperaturverlauf somit vollständig auf der Makroebene beschreiben und berechnen, ohne die Details der Mikroebene mit den vielen Wassermolekülen kennen zu müssen. Obwohl die Temperatur (Makroebene) vollständig und ausschliesslich durch die Bewegung der Moleküle (Mikroebene) definiert wird, ist die Kenntnis der Detailinformationen für ihre Voraussage (Temperaturverlauf auf der Makroebene) gar nicht nötig. Die Details der Mikroebene scheinen auf der Makroebene zu verschwinden. Wir haben einen typischen Fall von Informationsreduktion.


Im Fortsetzungsbetrag wird das Bild vom Wasserglas präzisiert. Anschliessend schauen wir das Verhältnis von Mikro- und Makrozustand genauer an.


Zum Thema Informationsreduktion finden Sie hier die Übersichtsseite.