Die Wahrnehmung der Oktave mental

Dies ist ein Beitrag zur Entstehung der Tonleitern und setzt den Beitrag zur Resonanz der Oktave fort.


Die subjektive Seite

Die mathematische oder nach Penrose platonische Welt mit ihren einfachen Zahlenverhältnissen und die physikalische Welt mit ihren Resonanzphänomenen bringt uns die Oktave näher, erklärt aber noch nicht, weshalb dieses Intervall in allen Kulturen die Basis von allen Tonleitern ist. Dazu müssen wir auch die mentale Welt betrachten, das heisst die Welt unserer subjektiven Wahrnehmung.

Diese ist zwar allen zugänglich, doch es bleibt ihre eigene und subjektive Wahrnehmung. Ich kann nicht in Ihren Kopf sehen. Zwar können bildgebende Verfahren (MRI, PET) objektiv feststellen, welche Hirnareale wann aktiv sind, doch was auf diese Weise wahrnehmbar wird, ist der Blutfluss an einer bestimmten Stelle und nicht der Gedanke, wie Sie ihn erleben.

Happy Birthday

Die mentale Welt ist Ihre höchst persönliche Welt, doch für das Primat der Oktave trägt sie einiges bei. Wieder schlage ich ein kleines Experiment vor, zwar kein objektives wie im Vorbeitrag, doch ein durchaus nachvollziehbares. Der Vorteil ist: Mit grosser Wahrscheinlichkeit haben Sie es bereits schon mehrmals durchgeführt.

Es kann auch das Weihnachtslied im Familienkreis sein. Mehrere Menschen singen zusammen und wenn wir Glück haben, singen wir einstimmig. Das ist jedenfalls meistens unsere Absicht. Es funktioniert besser, wenn alle Sänger etwa die gleiche Stimmlage haben. Was aber, wenn Frauen und Männer und Kinder zusammen singen? Auch dann erkennen wir, wenn alle einstimmig zusammen sind. Wir singen zwar nicht die gleichen Frequenzen, sondern Frequenzen mit einer Oktave Abstand, merken das aber praktisch nicht. Der Abstand von einer Oktave klingt für uns als der gleiche Ton. Wenn ich als Bass neben dem Alt die tiefere Oktave nicht treffe, singe ich falsch, wenn ich sie treffe, singe ich richtig. Das ist die subjektive Wirkung der Oktave: Es ist der gleiche Ton.

Die Resonanz in der physikalischen Welt erleichtert dieses subjektive Zusammenfallen der Töne im Oktavabstand, und vermutlich unterstützen uns die Resonanzverhältnisse auf der Basilarmembran des Innenohrs darin, die beiden Frequenzen auch subjektiv in unserer mentalen Welt zusammenzubringen.

Erster und zweiter Oberton

Die Oktave als erster mathematisch-physikalisch möglicher Oberton unterscheidet sich in dieser Beziehung vom zweiten Oberton, der in der Tonleiter auf eine Quint fällt. Zur Verdeutlichung des mathematischen Bezugs zeige ich nochmals die Schwingungsverhältnisse von Grundton und den ersten Obertönen:

Abb. 1: Oktave und Quinte als Obertöne

Weshalb ist nun die Oktave das Merkmal der Einstimmigkeit und nicht die Quinte, obwohl beide mathematisch und physikalisch die engste Beziehung zum Grundton haben? Die Quinte ist zwar mathematisch gesehen etwas weiter weg vom Grundton als die Oktave, aber die Doppeloktave ist es noch weiter und trotzdem empfinden wir die Doppeloktave genau wie die Oktave mental als den «gleichen» Ton wie den Grundton.

In der mentalen Welt, also in unserem Erleben, unterscheiden sich Oktave und Quinte deutlich. In dieser Welt sind die Oktave (und alle Mehrfach-Oktaven) der «gleiche» Ton – die Quinte aber ist ein anderer Ton. Das ist überall auf der Welt so, in allen Kulturen. Weil ein Ton eine Oktave höher als der gleiche Ton empfunden wird, wiederholen sich die Tonleitern eine Oktave höher, und nicht etwa eine Quinte.

Ein Experiment zur Unterscheidung von Oktave und Quinte in der mentalen Welt

Das oben beschriebene Happy-Birthday Experiment kann erweitert werden und so auch den Unterschied zwischen Quinte und Oktave und die besondere Rolle der Oktave zeigen. Sänger können z.B. versuchen, bei der nächsten Geburtstags-Party den Song nicht eine Oktave tiefer (oder höher) zu singen, sondern eine Quinte. Das dürfte ziemlich schwierig für Sie sein, weil Sie eben nicht den «gleichen» Ton singen wie die anderen. Und falls Sie es schaffen, werden die anderen Sie verwundert ansehen, weil Sie eben die Quinte und «nicht den gleichen Ton» singen. Die Oktave ist der «gleiche» Ton, die Quinte ist es nicht.

Über den Zugang zur mentalen Welt

Die mentale Welt lässt sich bekanntlich schwierig beweisen, da sie völlig subjektiv ist. Obwohl jeder mit seinen Gedanken und Empfindungen dauernd in dieser Welt lebt, ist sie objektiver naturwissenschaftlicher Untersuchung nur indirekt zugänglich. Die Inhalte Ihres mentalen Erlebens können Sie anderen Menschen mitteilen, aber ganz sicher können Sie nie sein, dass die anderen sie auch gleich empfinden. Sie können nur hoffen, dass die anderen Ihr Erleben nachvollziehen können. Doch genau dieses subjektive Erleben und Nachvollziehen macht ja die Musik so interessant. Auf eine ganz besondere Weise teilen wir so unsere Subjektivität.

Fazit

Wir sehen, wie sich genau bei der Oktave die mathematische, die physikalische und die mentale Welt treffen. Die einheitliche Bedeutung der Oktave in allen Musikkulturen der Erde ist nur unter Einbezug aller drei Welten verstehbar.


In der Fortsetzung geht es um die weiteren Töne der Tonleitern. Können diese auch so einfach wie die Oktave erklärt werden?


Dies ist ein Beitrag zur Entstehung der Tonleitern


 

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