Tonleitern vor der Temperierung
Natürliche Tonleitern
Die Tonleitern der menschlichen Kulturen haben sich über die Jahrtausende auf natürliche Weise, d.h. ganz ohne bewusste mathematische Überlegungen entwickelt. Dass trotzdem sehr viel Mathematik dahinter steckt, hat mit den Resonanzen der Tonleitertöne zum Grundton zu tun. Diese Resonanzen sind für uns attraktiv und Musik, die auf solchen Resonanzen beruht, hat die Fähigkeit, menschliche Gemeinschaften zusammen zu bringen.
Mathematisch kann die Resonanz auf Brüche mit möglichst kleinen ganzen Zahlen zurückgeführt werden und wir konnten rechnerisch ableiten, welche neun Intervalle die deutlichsten Resonanzen aufweisen müssen. Nicht zufällig bestehen alle global verbreiteten Tonleitern – d.h. die Standardpentatoniken, unser Dur und unser Moll, die Kirchentonarten und viele mehr – ausschliesslich aus einer Auswahl von fünf, bzw. sieben aus diesen neun Tönen.
Der Grundton und die Spannung
Ebenfalls in allen Kulturen beobachtbar und für uns gar nicht anders vorstellbar ist die Tatsache, dass alle Tonleitern eine klar definierte Basis, d.h. einen Grundton haben, auf den sich die anderen Töne immer beziehen. Dies ist der Grundton, zu dem jeder Tonleiterton seine Resonanz aufbaut, je stärker sie ist, umso ruhiger wirkt der Ton neben dem Grundton, aber auch innerhalb der Melodie. Andererseits, je höher die Zahlen in den Brüchen, d.h. je schlechter die Resonanz zum Grundton ist, umso schärfer und gespannter erscheint uns der Melodieton. Der schärfste Ton in der Dur-Tonleiter ist die grosse Sept (z.B. H in C-Dur), die einen Halbton unter Oktave liegt. Dieser Ton trägt die stärkste Spannung von allen Tönen in der Durtonleiter, er verlangt nach seiner Auflösung auf die Oktave und führt so die Melodie von Spannung zu Entspannung. Diese Spannung ist nur möglich, weil der Grundton hör- oder unhörbar mitschwingt und die Resonanz zu ihm gespannt ist.
Dies alles aber hat noch nichts mit der Temperierung zu tun und funktioniert in reinem Dur.
Weshalb wurden die Tonleitern temperiert?
Zwei Masstäbe: linear und exponentiell
Temperierung bedeutet, dass die Frequenz der Tonleitertöne leicht verändert, vermindert oder erhöht – d.h. temperiert – wird. Dabei werden die Resonanzen auf den ersten Blick leicht abgeschwächt, trotzdem hat sich in der europäischen Musikkultur die Temperierung als selbstverständlich durchgesetzt.
Um die Temperierung zu verstehen, ist es hilfreich zu erkennen, dass wir Intervalle mit zwei verschiedenen Masstäben messen: ein Masstab ist linear, der andere verhält sich exponentiell. Eine genaue Erklärung der Gründe und Konsequenzen der zwei Masstäbe finden sie hier. Vereinfacht gesagt geht es darum, dass alle Intervalle relativ sind. Wenn ich also eine Tonleiter von C aus aufbaue, sind die Tonleitertöne auf dieses C ausgerichtet, wenn ich einen anderen Grundton wähle, z.B. das D, dann ist das E von C ein anderes als das E von D.
Beispiel für diese Relativität der Masstäbe
In C-Dur ist der Ton E eine grosse Terz über dem Grundton C, die Frequenz des E beträgt 5/4 des Grundtons C. Ein Ton D ist eine grosse Sekunde über dem C und hat somit 9/8 der Frequenz des C. Wenn wir nun dieses D (=9/8) zum Grundton wählen, dann kommt in D-Dur ebenfalls E vor, aber diesmal als grosse Sekunde. Der entscheidende Punkt ist, dass dieses E nicht genau gleich hoch ist wie das E vorher von C-Dur:
Tonalität / Tonart | Frequenz bezüglich Tonleitergrundton | Frequenz bezüglich C-Dur |
Funktion des Tons in C-Dur, bzw. D-Dur |
C-Dur | C = 1 | 1 | Grundton |
D = 9/8 | 9/8 | grosse Sekunde | |
E = 5/4 | 5/4 | grosse Terz | |
D-Dur | D = 1 | 9/8 | Grundton |
E = 9/8 | 9/8 x 9/8 = 81/64 | grosse Sekunde |
Tabelle 1: Relativität der Frequenzen bezüglich Grundton
In Tabelle 1 sehen Sie, dass das scheinbar gleiche E in den beiden Tonleitern verschiedene Tonhöhen hat:
E in C-Dur = 5/4 = 1.25
E in D-Dur = 81/64 = 1.266
Wenn ich eine Saite auf das E für C-Dur stimme, dann stimmt die Saite nicht ganz mit dem erwarteten E in D-Dur überein. Der Unterschied ist nicht gross, doch messbar und für feine Ohren durchaus hörbar.
Die reine Stimmung funktioniert nur für einen definierten Grundton.
Sobald der Grundton wechselt, sind alle Tonleitertöne relativ zum neuen Grundton in Resonanz und die Tonhöhen der früheren Tonart stimmen nicht mehr alle ganz. Grund dafür sind wie dargestellt die doppelten Masstäbe für Intervalle, einmal linear (Hörempfindung) und einmal exponentiell (physikalische Frequenzen).
Die drei Welten
Wieder geht es um die drei Welten nach Penrose: Die Hörempfindung findet in der mentalen Welt statt, die Frequenzen sind Teil der physikalischen Welt und die ideale Welt ist diejenige der Mathematik der ganzzahligen Brüche. Alle drei Welten spielen bei der Musik auf höchst interessante Weise zusammen.
Ziel der Temperierung
Bei der Temperierung geht es nun darum, dass der Grundton frei gewechselt werden kann, ohne dass die von früher bekannten resonanten Tonleitern aufgegeben werden müssen. Es handelt sich um einen genial gewählten Kompromiss, der wirklich beide Ziele vereinen kann.
Historische Entwicklung
Die Faszination für resonante Akustik ist typisch für alle menschliche Kulturen. So entstanden die hochresonanten Tonleitern, die Standardpentatoniken und die Durtonleiter, verschiedene Molltonleitern und die in den gregorianischen Chorälen häufig verwendete dorische Tonleiter. Die Musik, die früher mit diesen Tonleitern gespielt wurde, hatte immer eine konstante Tonalität, d.h. einen Grundton, der nicht geändert wird, solange die Melodie erklingt. Alle Töne der Melodie vergleichen sich mit dem Grundton und die Tatsache, wie stark der Melodie mit dem Grundton in Resonanz steht, zeigt die Spannung an, welche die Melodie beim jeweiligen Ton hat.
Mehrstimmige Instrumente aus früheren Kulturepochen haben zur Unterstützung der Grundtöne oft zusätzliche Saiten (Bordunsaiten) oder Pfeifen (Dudelsack), deren Tonhöhe nicht verändert werden kann, damit genau diese Spannung des Melodietons zum Grundton hervorgehoben wird. Während die Töne der Melodie variieren, erklingt der Grundton (Bordunton) durch das ganze Stück durch und gibt einen soliden Boden.
In Europa jedoch setzten sich in der Renaissance gewisse Neuerungen durch. So begann man den Grundton während des Stücks zu wechseln. Das erlaubt eine grössere Vielfalt in der Musik. Solange die Tonarten miteinander verwandt waren, entstanden nur geringe Frequenzabweichungen, bei wirklich eng verwandten Tonarten betrafen sie auch nur einen Ton. Je weiter die Tonarten aber voneinander entfernt waren, umso schwieriger wurde es. So klang es z.B. sehr unschön, wenn versucht wurde auf einer Orgel, die in C gestimmt war, in Fis-Dur zu spielen. Nun begann in Europa eine Periode der verschiedensten Versuche mit leicht veränderten (=temperierten) Stimmungen, welche die Unvereinbarkeit der Grundtonverschiebung mit der Reinheit der Intervalle in verschiedenen Kompromissen zu überbrücken versuchten. Letztlich durchgesetzt hat sich im Spätbarock die gleichstufige (gleichschwebende) Temperierung, die einen wirklich überzeugenden Kompromiss darstellt und die reiche Entwicklung der Harmonik in Klassik und modernen Jazz erst möglich gemacht hat.
Mehr dazu im nächsten Beitrag
Die ist ein Beitrag zur Entstehung der Tonleitern.