Die Quinte
Schauen wir als erstes die Quinte an. Sie kommt in praktisch allen Tonleitern der menschlichen Kulturen vor. Tonleitern ohne diese reine Quinte existieren, doch diese Tonleitern erscheinen mir einerseits künstlich und bewusst konstruierte wie die Ganztonleiter zu sein, oder dann eher ungebräuchliche, wie das Lokrische. Die Bluestonleiter, die mit dem «Blueston», d.h. der «Flat Five», einen Ton knapp neben der Quinte benützt, kennt neben dieser verminderten Quinte (=Flat Five) auch die ganz normale Quinte. Die Quinte ist sicher nach der Oktave das Intervall, das am häufigsten in all den Tausenden von Tonleitern auf dieser Erde vorkommt.
Quinte und Duodezime
Kann diese normale Quinte wie die Oktave durch Resonanz entstehen? Sie ist zwar kein direkter Oberton, doch sie kann trotzdem über die Obertöne erreicht werden. Ich zeige hier gleich wie das funktioniert, nämlich über einen kurzen Umweg über die Duodezime, den dritten Oberton.
Zur Veranschaulichung zeige ich hier nochmals die Abbildung mit den schwingenden Obertönen:
Abb. 1: eine schwingende Saite mit Grundton und den ersten vier Obertönen
In Abb. 1 habe ich den dritten Oberton sogar schon als Quinte bezeichnet, eigentlich falsch, denn es ist in Wirklichkeit eine Duodezime. Trotzdem erscheint uns dieser Ton beim Hören sofort als eine Quinte. In Abb. 2 sehen Sie ein Beispiel für Quinten und Duodezimen auf dem Klavier:
Abb 2: Oktave und Duodezime auf dem Klavier
In unserem Beispiel ist der Grundton ein (grosses) C. Der erste Oberton, die Oktave, ist ein (kleines) c und der zweite Oberton, die Duodezime ein (kleines) g. Bekanntlich sind Intervalle immer relativ. Dieses kleine g ist nun bezogen auf den Grundton C zwar eine Duodezime, aber bezogen auf den ersten Oberton, nämlich auf das kleine c, ist das g eine Quinte.
Die Frequenz der Quinte
Wie steht es nun um dieses Intervall c-g frequenzmässig? Vergleichen wir dazu Abbildung 1 und 2: Der Ton 3 von Abb. 1 (g) ist das 3-fache der Grundschwingung (C) und der Ton 2 (c) das 2-fache. Somit schwingt Ton 3 (g) bezogen auf Ton 2 (c) 3/2 mal so schnell. Wenn wir also nicht das grosse, sondern das (kleine) c als Grundton nehmen, dann ist das (kleine) g die Quinte. Und in der Quinte schwingt der obere Ton (das g) 3/2 mal so schnell wie der untere Ton (das c). Das gilt ganz allgemein: Ein Ton der 3/2 mal so schnell schwingt wie ein anderer, klingt für uns eine Quinte höher.
Die drei Welten in der Quinte
Der Bruch 3/2 ist die mathematische Seite der Quinte. Wir haben sie über die Physik der Saitenschwingungen hergeleitet. Gleichzeitig haben wir die bereits erwähnten Bedingungen (Constraints) aus der mentalen Welt eingehalten: Die Quinte – wenn sie ein Tonleiterton sein soll – darf nämlich nicht zu weit weg vom Grundton sein. Das gilt für jeden Tonleiterton, er muss sich innerhalb einer Oktave bewegen. Mathematisch bedeutet das, dass das Verhältnis seiner Frequenz zur Frequenz des Grundtons zwischen 1 (=Grundton) und 2 (=Oktave) liegen muss. Die Quinte erfüllt das mit dem Frequenzverhältnis 3/2 = 1.5. Bei der Duodezime ist das Frequenzverhältnis 3, also grösser als 2 und somit ist die Duodezime kein Tonleiterton. Wir empfinden sie als Quinte, einfach eine Oktave höher, aber wie erwähnt, in der mentalen Welt empfinden wir die Oktave als den «gleichen» Ton.
Das Resonanzexperiment zur Quinte
Für den Bezug von Grundton, Quinte und Duodezime schlage ich Ihnen ein weiteres Resonanzexperiment auf dem Klavier vor:
Abb 3: Resonanzexperiment für die Quinte. Im Vergleich zu Abb. 2 ist nun die Quinte – das grosse G – und nicht das kleine g die Taste, auf der wir die Resonanz untersuchen.
Als erstes testen wir erneut die Duodezime und drücken wie beim Oktavexperiment mit der rechten Hand die Taste der Duodezime (das kleine g). Dabei soll die Saite nicht klingen, aber die Taste heruntergedrückt bleiben. Mit der linken Hand schlagen wir kurz und kräftig auf das C, also den Grundton. Wie beim Oktavexperiment sollte nun die heruntergedrückte Saite (g) klingen, obwohl sie nicht angeschlagen wurde. Es handelt sich um eine reine Resonanz, die Saite klingt, weil sie durch Schallwellen angeregt worden ist. Das funktioniert, weil das kleine g ein Oberton des grossen C ist.
Was aber ist mit dem grossen G, also der Quinte? Halten Sie zum Test das grosse G lautlos heruntergedrückt und schlagen dabei kräftig den Grundton an, also das grosse C. Sie hören nun einen hohen Ton. Wenn Sie genau hinhören, werden Sie feststellen, dass es sich nicht um die Quinte, also das grosse G handelt, sondern um die Duodezime, nämlich das kleine g. Wie kommt das, das dieser Ton erklingt, wo Sie doch die Taste des kleinen g’s gar nicht heruntergedrückt halten?
Effektiv erklingt das kleine g auf der Saite des grossen G’s! Das heisst die Saite schwingt nicht in ihrer Grundschwingung, sondern in ihrer ersten Oberschwingung, der Oktave. Das geht gut, denn die Saite kann mit zwei Bäuchen fast so gut schwingen wie mit einem. Es handelt sich um einen sogenannten Flageolett-Ton.
Mit anderen Worten: Sie haben auf der Saite G eine Oberschwingung angeregt, deren Frequenz doppelt so schnell wie die Grundfrequenz der Saite ist. Woher aber wurde die Frequenz angeregt? – Es ist die gross C Saite, welche den Oberton initiiert hat. Auch bei der Schwingung dieser C-Saite ist ja das kleine g als Oberschwingung enthalten, nämlich als 2 Oberton. Dieser 2. Oberton regt nun die (gross) G Saite zur Resonanz an, aber nicht in ihrer Grundschwingung, sondern in ihrem ersten Oberton, dem kleinen g. Denn nur dieses ist als Oberschwingung auf der (gross) G Saite anregbar. Diesen Ton (g) hören Sie auf der (G)-Saite, solange Sie die G-Taste gedrückt halten.
Tabelle 1: Die Resonanz in der Quinte
Die Resonanz erfolgt bei der Quinte somit über den Umweg der Obertöne. Keine Saite ist in ihrer Grundschwingung beteiligt, sondern beide Saiten nur über ihre Oberschwingungen. Dass das funktioniert, haben Sie mit dem Quintenexperiment gezeigt.
Die Quinte, ein einfacher Bruch
In Tabelle 1 wird die Quinte als Bruch dargestellt: 3/2.
Wie wir gesehen haben, müssen alle Tonleitertöne im Bereich einer Oktave sein, das heisst ihre Frequenz muss zwischen dem Einfachen und dem Doppelten der Frequenz des Grundtons sein. Das haben wir mit dem Frequenzverhältnis 3/2 = 1.5 erreicht. Wir haben damit den ersten Ton innerhalb des Oktavbereichs gefunden, der ein sehr einfaches Intervallverhältnis zum Grundton hat. Während die Oktave doppelt so schnell schwingt wie der Grundton, schwingt die Quinte 3/2 mal so schnell.
Die Obertöne kommen mit Ausnahme der Oktave für die Tonleitern nicht infrage. Sie können spielen aber trotzdem als Überträger der Resonanz eine Rolle. Wir haben die Quinte erhalten, indem wir die Duodezime (2. Oberton) einfach um eine Oktave herunter gebrochen haben. Dieses Herunterbrechen um eine Oktave zeigt sich als die 2 im Nenner. Die 3 im Zähler ist das «Erbe» des zweiten Obertons, der Duodezime, die dreimal so schnell schwingt wie der Grundton..
Ausblick
Mit dem Bruch 3/2, der die Quinte definiert, haben wir ein auffällig einfaches Zahlenverhältnis erhalten. Das ist kein Zufall. Wir werden sehen, wie diese einfachen Zahlenverhältnisse (ideale Welt) auch für die anderen Tonleitertöne eine Rolle spielen. Gleichzeitig werden wir sehen, dass das Kochbuch für diese Töne zuerst sehr mathematisch erscheint, dann aber durch die Constraints der physikalischen und mentalen Welt zunehmend gebrochen wird und schliesslich zu der scheinbar unendlichen Vielfalt an unterschiedlichen Tonleitern führt.
Schon die Tatsache, dass wir nicht mehr einfache ganzzahlige Verhältnisse wie bei den Obertönen für die Tonleitern verwenden können, sondern dass jetzt Brüche (mit ganzen Zahlen) verwendet werden, ist dem Constraint der Oktavbeschränkung geschuldet, die ein Constraint der physikalisch/mentalen Welt ist. Wir werden weitere Constraints finden – aber auch sehen und hören, wie die drei Welten immer wieder ganz nah zusammen kommen, fast so nah wie bei der Oktave.
Die Quinte ist nicht der einzige Bruch unter unseren Tonleiterintervallen. Ganzzahlige Brüche definieren die wichtigsten Tonintervalle. Mit einer einfachen Konstruktionsregel finden wir sie. Auf einem Fortsetzungbeitrag erkläre ich das Prinzip, das auf bemerkenswerte Weise Mathematik, Physik und menschliches Empfinden zusammenbringt.
Dies ist ein Beitrag zur Entstehung der Tonleitern