Was bringt die gleichstufige Temperierung?

Die temperierte Stimmung hat sich in der unserer abendländischen Musikkultur durchgesetzt – trotz des offensichtlichen Nachteils, dass ihre Intervalle nicht mehr rein sind. Das war nur möglich, weil gewichtige Vorteile den Makel der Unreinheit wettgemacht haben:

1. Eine einzige Stimmung reicht für alle Tonarten: der Grundton ist frei wählbar.

Im Prinzip muss bei der reinen Stimmung für jede Tonart und jeden Grundton neu gestimmt werden. Bei einem Cembalo sind das einige Saiten und bei einer Orgel ist das wirklich eine grosse Aufgabe in Anbetracht der vielen Register und Pfeifen. Je weiter die Tonarten voneinander entfernt sind – d.h. je mehr Kreuze und B’s Sie haben – umso schlimmer wird die Verstimmung. Das ändert sich bei der gleichstufig temperierten Stimmung. Sie ist zwar nie ganz rein, doch auch nie so verstimmt wie eine entfernte Tonart. Mit der gleichstufigen Temperierung kann ohne Neustimmen sofort in jeder Tonart gespielt werden. Orgeln, Streicher und Bläser, alle Instrumente können jetzt in allen Tonarten miteinander zusammenspielen.

2. Freies Modulieren

Dieser Vorteil ist besonders offensichtlich und wirkungsvoll. Im gleichen Musikstück können wir nun – ganz ohne Pause und Neustimmen – von einer Tonart beliebig in eine beliebige andere wechseln (modulieren). Mit der reinen Stimmung ist das nur ganz begrenzt für eng verwandte Tonarten möglich. Mit der gleichstufigen Temperierung gibt es für das Modulieren jedoch keine Grenzen mehr.

3. «Geschenkte» Tonarten: 

Mit den sieben Töne der Dur-Tonleiter kann nicht nur Dur gespielt werden. Auf den weissen Tasten des Klaviers können Sie alle Kirchentonarten spielen werden, je nachdem welchern der sieben Töne Sie als Grundton wählen:

C: Ionisch = Dur
D: Dorisch
E: Phrygisch
F: Lydisch
G: Mixolydisch
A: Äolisch
H: Lokrisch

Die C-Dur Tonleiter besteht aus einem bestimmten Wechsel von Ganztönen und Halbtönen. Wenn Sie auf einem anderen Ton als C beginnen, erhalten Sie ein anderes Muster der Ganz- und Halbtöne. Mit den gleichen sieben Tönen können Sie somit je nach Ausgangspunkt sieben in ihrem Muster von Ganz- und Halbtönen verschiedene und damit auch in ihrem Charakter sehr unterschiedliche Tonleitern spielen. Das geht aber nur wenn jeder Ganzton und jeder Halbton jeweils immer gleich gross ist – bei der reinen Stimmung ist das wie gezeigt genau nicht der Fall, bei der gleichstufigen Temperierung aber per definitionem so. Deshalb entstehen aus jeder Heptatonik in der gleichstufigen Temperierung automatisch sieben in ihrem Charakter sehr unterschiedliche Heptatoniken.

Das gleiche gilt für die Pentatoniken: Wenn Sie z.B. auf dem Klavier nur die schwarzen Tasten drücken, spielen Sie automatisch pentatonisch (Penta = Fünf → fünf schwarze Tasten). Je nachdem, welchen Ton Sie als Grundton wählen, spielen Sie eine andere Pentatonik, z.B. die Durpentatonik (mit Fis als Grundton) oder die Mollpentatonik (mit Es als Grundton).

Dieses Prinzip gilt nicht nur für die weissen und schwarzen Tasten, sondern auch für weitere Tonleitern, z.B. das «melodisch Moll» im Jazz. Es handelt sich wie bei Dur und den Kirchentonarten um eine Selektion von sieben Tönen, also eine Heptatonik, allerdings in Abständen, die nicht allein mit den weissen Tasten gespielt werden können. Aber auch bei den «melodisch-Moll» Tonleitern können wir mit einer Auswahl von sieben Tönen sieben charakterlich und funktional sehr unterschiedliche Tonleitern spielen, je nachdem, welchen der sieben Töne wir als Grundton wählen.

4. Polytonalität

Dieses Stilmittel entstand im 20. Jahrhundert mit Strawinsky und anderen Komponisten und ist auch im modernen Jazz gebräuchlich. Dabei werden mehrere Tonarten gemischt, in der Praxis sind es meist zwei (=Bitonalität). Das erscheint auf den ersten Blick etwas gewagt, klingt aber unter entsprechender Beachtung der Resonanzen (!) – durchaus eingängig.


Fazit aus Sicht der Drei-Welten-Theorie

Die mathematische Reinheit (platonische Welt) der Intervallresonanzen wird durch die Temperierung verletzt, aber so minimal, dass die resultierenden Schwingungsphänomene (physikalische Welt) sich trotzdem einstellen und das Hörerlebnis (mentale Welt) kaum geschmälert wird.

Andererseits werden aber durch das freie Modulieren die Kombinationsmöglichkeiten der insgesamt immer noch nur zwölf Töne gewaltig erweitert. Diese mathematische Erweiterung (platonische Welt) ist hörbar und spannend (mentale Welt). Durch die minimale Unreinheit gewinnt die Musik an Varianten und Reichtum.


Dies ist ein Beitrag zum Thema Drei-Welten-Theorie.

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