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Brüche und Resonanzen

Resonanz funktioniert über gemeinsame Obertöne

Resonanz besteht, wenn zwei schwingungsfähige physikalische Träger gemeinsam schwingen. Dabei kommt es auf die Eigenfrequenz der beiden Träger an:

  • Resonanz 1. Grades: Beide Träger schwingen in der gleichen Frequenz (f2 = f1)
  • Resonanz 2. Grades: Ein Träger schwingt in einer Obertonfrequenz des anderen (f2 = n * f1)
  • Resonanz 3. Grades: Beide Träger schwingen in einer gemeinsamen Obertonfrequenz (f2 = n/m * f1)

Die Resonanz 3. Grades zeigt sich dadurch, dass das Verhältnis der beiden Frequenzen einem Bruch mit ganzen Zahlen (n/m) entspricht. Diese Resonanz 3. Grades ist die, die uns interessiert, denn sie ist für Tonleitern und Akkorde wirksam, und nicht wie oft angenommen diejenige 2. Grades (siehe den diesbezüglichen Vorbeitrag).

Beispiel Quinte

Eine Saite a' habe die Grundfrequenz 440 Hz und eine Saite e" die Frequenz 660 Hz. Dann schwingt auf der Saite a' der zweite Oberton mit 3 x 440 = 1320 Hz und auf der Saite e" der erste Oberton mit der Frequenz 2 x 660 = 1320 Hz. Dieser Ton ist der gemeinsame Oberton.
Die Saite a' kann nun die Saite e" über diesen gemeinsamen Oberton die Saite anregen. Das Verhältnis der beiden Grundfrequenzen ist entsprechend 3/2.

These

Damit Resonanz entsteht, müssen die Frequenzen im Verhältnis eines Bruchs mit ganzen Zahlen sein.

Warum ganze Zahlen?

Im Schwingungsmedium (Saite, Basilarmembran, etc.) entstehen bei einer Schwingung stehende Wellen. Diese sind dadurch charakterisiert, dass die Saite an ihren beiden Enden nicht schwingt, sondern nur in der Mitte, mit einem oder mehreren Bäuchen. Die Zahl der Schwingungsbäuche in der Mitte muss eine ganze Zahl sein, da sonst die stehende Welle an den beiden Enden nicht auf der Nulllinie wäre.


Tonleitertöne bewerten anhand der Resonanzen

Oktaven und Quinten lassen sich, wie wir hören können, sehr leicht in Resonanz bringen (Quintenexperiment) und zeichnen sich durch sehr einfache Resonanzverhältnisse (f2/f1) aus, nämlich 2/1 für die Oktave und 3/2 für die Quinte. Mit ganz wenigen mathematischen Bedingungen lassen sich nun weitere Tonleitertöne finden:

Kriterien für die Töne einer Tonleiter

Es wird jeweils das Intervall des Tons zum Grundton der Tonleiter angesehen.

  1. Das Intervall muss innerhalb einer Oktave liegen: Das heisst, der Bruch der beiden Frequenzen (Tonleiterton zu Grundton) muss ≥ 1 und  ≤ 2 sein.
  2. Das Intervall muss resonanzfähig sein: Nenner und Zähler des Bruchs müssen ganze Zahlen sein.
  3. Die Resonanz soll möglichst kräftig sein: Der Nenner des Bruchs soll möglichst klein sein.

Die beiden letzten Kriterien sind entscheidend, aber etwas erklärungsbedürftig und ich werde gerne die Gründe dafür veranschaulichen. Im Moment aber nehme ich alle drei mathematischen Kriterien als gegeben an und schaue, ob wir damit weitere bekannte Intervalle finden können.


Generierung eines Pools möglicher Tonleitertöne mit Hilfe dieser drei Kriterien

Wir gehen von den Nennern aus und starten dabei mit den Nennern 1 und 2. Bereits enthalten in unserer Tonleiter sind:

Alle übrigen Töne mit Nenner 1 oder 2 liegen ausserhalb unseres Oktavbereichs (1-2). Wir schauen deshalb, ob sich mit dem Nenner 3 weitere bekannte Intervalle ergeben:

Alle weiteren Brüche mit Nenner 3 liegen ausserhalb unseres Oktavbereichs. Wir fahren deshalb mit dem Nenner 4 weiter:

Alle weiteren Brüche mit Nenner 4 liegen ausserhalb unseres Oktavbereichs. Wir fahren deshalb mit Nenner 5 weiter:

Weitere Brüche mit Nenner 5 liegen ausserhalb unseres Oktavbereichs.

Zwischengedanke

Was hier auffällt ist, dass Brüche mit Zähler 7 bei uns in Europa als Intervalle nicht vorkommen. Meine These ist, dass das damit zu tun hat, dass sieben eine Primzahl ist. Das kann erklären, weshalb 8/5 und 9/5 für uns gewohnte Intervalle sind, obwohl Nenner und Zähler bei diesen Brüchen höher ist als bei 7/5. Acht ist 2x2x2 und Neun ist 3×3. Wir werden später sehen, dass wir zur Beurteilung der Resonanz von mehreren Tönen auch mehrere Intervalle miteinander vergleichen können. Zwei Intervalle vergleichen bedeutet in der Frequenzanalyse, dass der Bruch des einen Intervalls durch den Bruch des anderen geteilt wird. Dabei ist es vorteilhaft, wenn gekürzt werden kann. Bei einer Primzahl besteht diese Möglichkeit nicht, bei Zahlen wie 8 oder 9 ist das Kürzen aber oft möglich, insbesondere wenn wir mit Quinten und Quarten das 2 und das 3 im Nenner haben. Beispiele werden folgen.

Für unsere Generierung resonanter Tonleitertöne folgt aber, dass wir auf 7/4 und 7/5 verzichten – weil die 7 im Zähler eine zu hohe Primzahl ist.

Weiter geht es nun mit Nenner 6:

Der Nenner 6 bringt also keine neuen Töne.

Nenner 7 lassen wir als hohe Primzahl weg und gehen gleich zu Nenner 8:

Mit Nenner 8 gibt es somit zwei neue Intervalle, nämlich die grosse Sekunde (9/8) und die grosse Sept (15/8). Zwar sind bei beiden die Zähler und Nenner recht hoch, doch dafür lassen sich ihre Zähler und Nenner durch 2, 3 und 5 teilen. Dadurch werden die Brüche der Intervalle im Verbund von Tonleitern und Akkorden kürzbar und die Intervalle erweisen sich als resonant.

Damit beenden wir die Tonsuche und stellen unsere Funde in aufsteigender Frequenz zusammen:

Pool der resonanzmässig vorteilhaften Intervalle

Bei unserem Pool fällt folgendes auf:

a) Die meisten bei uns verwendeten Intervalle haben ganz einfache Frequenzverhältnisse.

b) Die Quart ist mit tiefem Nenner und Zähler der «viert-logischste» Tonleiterton. Dieser Ton ist aber nie ein Oberton. Trotzdem macht er Sinn und zwar sowohl in der mathematischen Welt (einfacher Bruch), wie in der physikalischen Welt (einfache Resonanzverhältnisse) wie auch mental (subjektives, musikalisches Hörerlebnis).

c) Kleine Sekunde und Tritonus fehlen in unserem Pool. Diese Töne sind mathematisch keine problemlosen Brüche und klingen entsprechend schärfer. Das ist musikalisch natürlich interessant, doch das Ideal einer problemlosen Resonanz wird mit diesen Intervallen verfehlt. Wir werden später sehen, wie der Tritonus sich unter gewissen Bedingungen trotzdem gut in Resonanzen einfügen lässt, die kleine Sekunde hingegen klingt immer scharf und wird dadurch der eigentliche Leitton in der europäischen Musik.

Doch vorerst belassen wir es bei unserem Pool von zehn Tönen. Das reicht für viele, insbesondere für die global am häufigsten verwendeten Tonleitern. Wir haben gesehen, dass das mathematische Kriterium eines Bruchs mit kleinen ganzen Zahlen ausreicht, diesen Pool von resonanten Tonleitertönen rein rechnerisch zu generieren und ihn auf nur 10 Töne zu beschränken. Alle diese rein mathematisch definierten Tonleitertöne sind für unsere Ohren (mentale Welt) keine Unbekannten.  Das mathematische Kriterium läuft perfekt parallel zu dem, was wir hören.


Weitere Zwischengedanken

Mathematiker mögen bekanntlich Primzahlen. In dieser Hinsicht können wir das oben genannte 3. Kriterium (möglichst tiefe Zahlen für Zähler und Nenner) präzisieren:

3. Kriterium präzisiert:

Damit das Intervall im Verbund mit anderen Intervallen gut resonanzfähig ist, soll Zähler und Nenner bei der Primzahlzerlegung möglichst kleine Primzahlen ergeben:

2 ist besser als 3
3 ist besser als 5
5 ist besser als 7
7 ist in der Praxis schon zu gross

Intervalle und Rhythmen

Das ist anders als bei Rhythmen, wo Bruchverhältnisse ebenfalls eine Rolle spielen. Weshalb das dort anders ist, und weshalb Rhythmen mit 7 oder 11 Schlägen gut klingen, lässt sich in der 3-Welten-Theorie plausibel erklären. Mehr dazu später.

Vom Pool zu den Tonleitern

Wir suchen nun nach weiteren Kriterien für attraktive Tonleitern. Der gefundene Pool ist ja noch keine Tonleiter, sondern nur unsere Ausgangslage, um daraus die Töne für verschiedene Tonleitern zusammen zu stellen. Dabei gelten weitere Kriterien.

Weitere Kriterien

4. Kriterium: Die Tonleitertöne sollen bevorzugt auch untereinander Resonanzen eingehen können

5. Kriterium: Die Tonleiter hat einen Grundton (eine sogenannte Tonalität), die in der Tonleiter eine ganz besondere Funktion hat.

6. Kriterium: Die Tonleitertöne dürfen nicht zu nahe beieinander sein, sonst können wir sie als Menschen (Laien) nicht mehr unterscheiden. Dies ist ein praktischer Constraint aus der mentalen Welt. In einer rein mathematischen Welt wären beliebige Differenzierungen denkbar, in der Realsituation ist das nicht der Fall.

Mehr zu den Kriterien für Tonleitern im Fortsetzungsbeitrag.


Dies ist ein Beitrag zur Entstehung der Tonleitern 


 

Begriffserklärungen zur Sinusschwingung

Für unsere Resonanzüberlegungen spielen Sinusschwingungen eine entscheidende Rolle. Ich möchte auf dieser Seite die Begriffe, die ich dabei verwende, erklären.

Schwingung

Eine Schwingung ist eine Bewegung in der Zeit, die um eine Nulllinie herum pendelt.

Die Schwingung kann verschiedene Formen haben. Für unsere Resonanzüberlegungen gehen wir von reinen Sinusschwingungen aus, eine solche Schwingung zeigt die Abbildung.

Amplitude

Die Amplitude ist die Abweichung der Schwingung von der Nulllinie. Für unsere Überlegungen spielt sie primär keine Rolle.

Periode

Eine Periode dauert so lange, bis die Schwingung wieder am gleichen Ort ist und sich daraufhin genau gleich wiederholt. Je nach Form der Schwingung erfolgen pro Periode zwei oder mehr Nullliniendurchgänge, bei der Sinusschwingung sind es zwei in jeweils gegensätzlicher Richtung.

Wellenlänge

Die Wellenlänge ist die Länge einer Periode.

Frequenz

Die Frequenz bezeichnet die Anzahl der Perioden pro Zeiteinheit. Sie ist für unsere Resonanzüberlegungen die entscheidende Grösse, denn während Amplituden und Wellenlängen je nach Trägermedium der Welle wechseln, bleibt die Frequenz bei einer Schwingungsübertragung von einem Medium zum anderen erhalten.

«Bauch»

Pro Periode hat die Sinusschwingung einen Bauch in die positive und einen in die negative Richtung. Wenn wir die Bäuche pro Zeiteinheit zählen, messen wir damit die Frequenz. Das „Bauchzählen“ misst also die Frequenz. Der saloppe Ausdruck hat den Vorteil der Anschaulichkeit. Gleichzeitig betont der Ausdruck «Bauch» die Unteilbarkeit (mathematisch: ganze Zahlen!), während die Frequenz mit beliebigen reellen Zahlen angegeben werden kann.
Für die Resonanzverhältnisse werden immer ganze Zahlen, also die Zahl der vollendeten Bäuche, verglichen. Ob man nur die positiven oder sowohl positive wie negative Bäuche zählt, ist irrelevant, da beim Frequenzvergleich in beiden Fällen durch Kürzen die jeweils gleichen Quotienten (Brüche) entstehen.

Eigenfrequenz

Gewisse physikalische Medien (Saiten, Luftsäulen in Pfeifen, etc) haben die Eigenheit, in einer ganz bestimmten Frequenz zu schwingen, in ihrer Eigenfrequenz.

Grundton und Obertöne

Neben der Eigenfrequenz als Grundfrequenz (Grundton) kann das Medium auch mit einem ganzzahligen Vielfachen dieser Grundfrequenz schwingen. Ganzzahlig meint hier: Es kommt auf die Zahl der ganzen Perioden (Bäuche) an.

Das «Herunterbrechen» der Quinte

Die Quinte

Schauen wir als erstes die Quinte an. Sie kommt in praktisch allen Tonleitern der menschlichen Kulturen vor. Tonleitern ohne diese reine Quinte existieren, doch diese Tonleitern erscheinen mir einerseits künstlich und bewusst konstruierte wie die Ganztonleiter zu sein, oder dann eher ungebräuchliche, wie das Lokrische. Die Bluestonleiter, die mit dem «Blueston», d.h. der «Flat Five», einen Ton knapp neben der Quinte benützt, kennt neben dieser verminderten Quinte (=Flat Five) auch die ganz normale Quinte. Die Quinte ist sicher nach der Oktave das Intervall, das am häufigsten in all den Tausenden von Tonleitern auf dieser Erde vorkommt.

Quinte und Duodezime

Kann diese normale Quinte wie die Oktave durch Resonanz entstehen? Sie ist zwar kein direkter Oberton, doch sie kann trotzdem über die Obertöne erreicht werden. Ich zeige hier gleich wie das funktioniert, nämlich über einen kurzen Umweg über die Duodezime, den dritten Oberton.

Zur Veranschaulichung zeige ich hier nochmals die Abbildung mit den schwingenden Obertönen:

Abb. 1: eine schwingende Saite mit Grundton und den ersten vier Obertönen

In Abb. 1 habe ich den dritten Oberton sogar schon als Quinte bezeichnet, eigentlich falsch, denn es ist in Wirklichkeit eine Duodezime. Trotzdem erscheint uns dieser Ton beim Hören sofort als eine Quinte. In Abb. 2 sehen Sie ein Beispiel für Quinten und Duodezimen auf dem Klavier:

Abb 2: Oktave und Duodezime auf dem Klavier

In unserem Beispiel ist der Grundton ein (grosses) C. Der erste Oberton, die Oktave, ist ein (kleines) c und der zweite Oberton, die Duodezime ein (kleines) g. Bekanntlich sind Intervalle immer relativ. Dieses kleine g ist nun bezogen auf den Grundton C zwar eine Duodezime, aber bezogen auf den ersten Oberton, nämlich auf das kleine c, ist das g eine Quinte.

Die Frequenz der Quinte

Wie steht es nun um dieses Intervall c-g frequenzmässig? Vergleichen wir dazu Abbildung 1 und 2: Der Ton 3 von Abb. 1 (g) ist das 3-fache der Grundschwingung (C) und der Ton 2 (c) das 2-fache. Somit schwingt Ton 3 (g) bezogen auf Ton 2 (c) 3/2 mal so schnell. Wenn wir also nicht das grosse, sondern das (kleine) c als Grundton nehmen, dann ist das (kleine) g die Quinte. Und in der Quinte schwingt der obere Ton (das g) 3/2 mal so schnell wie der untere Ton (das c). Das gilt ganz allgemein: Ein Ton der 3/2 mal so schnell schwingt wie ein anderer, klingt für uns eine Quinte höher.

Die drei Welten in der Quinte

Der Bruch 3/2 ist die mathematische Seite der Quinte. Wir haben sie über die Physik der Saitenschwingungen hergeleitet. Gleichzeitig haben wir die bereits erwähnten Bedingungen (Constraints) aus der mentalen Welt eingehalten: Die Quinte – wenn sie ein Tonleiterton sein soll – darf nämlich nicht zu weit weg vom Grundton sein. Das gilt für jeden Tonleiterton, er muss sich innerhalb einer Oktave bewegen. Mathematisch bedeutet das, dass das Verhältnis seiner Frequenz zur Frequenz des Grundtons zwischen 1 (=Grundton) und 2 (=Oktave) liegen muss. Die Quinte erfüllt das mit dem Frequenzverhältnis 3/2 = 1.5. Bei der Duodezime ist das Frequenzverhältnis 3, also grösser als 2 und somit ist die Duodezime kein Tonleiterton. Wir empfinden sie als Quinte, einfach eine Oktave höher, aber wie erwähnt, in der mentalen Welt empfinden wir die Oktave als den «gleichen» Ton.

Das Resonanzexperiment zur Quinte

Für den Bezug von Grundton, Quinte und Duodezime schlage ich Ihnen ein weiteres Resonanzexperiment auf dem Klavier vor:

Abb 3: Resonanzexperiment für die Quinte. Im Vergleich zu Abb. 2 ist nun die Quinte – das grosse G – und nicht das kleine g die Taste, auf der wir die Resonanz untersuchen.

Als erstes testen wir erneut die Duodezime und drücken wie beim Oktavexperiment mit der rechten Hand die Taste der Duodezime (das kleine g). Dabei soll die Saite nicht klingen, aber die Taste heruntergedrückt bleiben. Mit der linken Hand schlagen wir kurz und kräftig auf das C, also den Grundton. Wie beim Oktavexperiment sollte nun die heruntergedrückte Saite (g) klingen, obwohl sie nicht angeschlagen wurde. Es handelt sich um eine reine Resonanz, die Saite klingt, weil sie durch Schallwellen angeregt worden ist. Das funktioniert, weil das kleine g ein Oberton des grossen C ist.

Was aber ist mit dem grossen G, also der Quinte? Halten Sie zum Test das grosse G lautlos heruntergedrückt  und schlagen dabei kräftig den Grundton an, also das grosse C. Sie hören nun einen hohen Ton. Wenn Sie genau hinhören, werden Sie feststellen, dass es sich nicht um die Quinte, also das grosse G handelt, sondern um die Duodezime, nämlich das kleine g. Wie kommt das, das dieser Ton erklingt, wo Sie doch die Taste des kleinen g’s gar nicht heruntergedrückt halten?

Effektiv erklingt das kleine g auf der Saite des grossen G’s! Das heisst die Saite schwingt nicht in ihrer Grundschwingung, sondern in ihrer ersten Oberschwingung, der Oktave. Das geht gut, denn die Saite kann mit zwei Bäuchen fast so gut schwingen wie mit einem. Es handelt sich um einen sogenannten Flageolett-Ton.

Mit anderen Worten: Sie haben auf der Saite G eine Oberschwingung angeregt, deren Frequenz doppelt so schnell wie die Grundfrequenz der Saite ist. Woher aber wurde die Frequenz angeregt? – Es ist die gross C Saite, welche den Oberton initiiert hat. Auch bei der Schwingung dieser C-Saite ist ja das kleine g als Oberschwingung  enthalten, nämlich als 2 Oberton. Dieser 2. Oberton regt nun die (gross) G Saite zur Resonanz an, aber nicht in ihrer Grundschwingung, sondern in ihrem ersten Oberton, dem kleinen g. Denn nur dieses ist als Oberschwingung auf der (gross) G Saite anregbar. Diesen Ton (g) hören Sie auf der (G)-Saite, solange Sie die G-Taste gedrückt halten.

Tabelle 1: Die Resonanz in der Quinte

Die Resonanz erfolgt bei der Quinte somit über den Umweg der Obertöne.  Keine Saite ist in ihrer Grundschwingung beteiligt, sondern beide Saiten nur über ihre Oberschwingungen. Dass das funktioniert, haben Sie mit dem Quintenexperiment gezeigt.

Die Quinte, ein einfacher Bruch

In Tabelle 1 wird die Quinte als Bruch dargestellt: 3/2.

Wie wir gesehen haben, müssen alle Tonleitertöne im Bereich einer Oktave sein, das heisst ihre Frequenz muss zwischen dem Einfachen und dem Doppelten der Frequenz des Grundtons sein. Das haben wir mit dem Frequenzverhältnis 3/2 = 1.5 erreicht. Wir haben damit den ersten Ton innerhalb des Oktavbereichs  gefunden, der ein sehr einfaches Intervallverhältnis zum Grundton hat. Während die Oktave doppelt so schnell schwingt wie der Grundton, schwingt die Quinte 3/2 mal so schnell.

Die Obertöne kommen mit Ausnahme der Oktave für die Tonleitern nicht infrage. Sie können spielen aber trotzdem als Überträger der Resonanz eine Rolle. Wir haben die Quinte erhalten, indem wir die Duodezime (2. Oberton) einfach um eine Oktave herunter gebrochen haben. Dieses Herunterbrechen um eine Oktave zeigt sich als die 2 im Nenner. Die 3 im Zähler ist das «Erbe» des zweiten Obertons, der Duodezime, die dreimal so schnell schwingt wie der Grundton..

Ausblick

Mit dem Bruch 3/2, der die Quinte definiert, haben wir ein auffällig einfaches Zahlenverhältnis erhalten. Das ist kein Zufall. Wir werden sehen, wie diese einfachen Zahlenverhältnisse (ideale Welt) auch für die anderen Tonleitertöne eine Rolle spielen. Gleichzeitig werden wir sehen, dass das Kochbuch für diese Töne zuerst sehr mathematisch erscheint, dann aber durch die Constraints der physikalischen und mentalen Welt zunehmend gebrochen wird und schliesslich zu der scheinbar unendlichen Vielfalt an unterschiedlichen Tonleitern führt.

Schon die Tatsache, dass wir nicht mehr einfache ganzzahlige Verhältnisse wie bei den Obertönen für die Tonleitern verwenden können, sondern dass jetzt Brüche (mit ganzen Zahlen) verwendet werden, ist dem Constraint der Oktavbeschränkung geschuldet, die ein Constraint der physikalisch/mentalen Welt ist. Wir werden weitere Constraints finden – aber auch sehen und hören, wie die drei Welten immer wieder ganz nah zusammen kommen, fast so nah wie bei der Oktave.


Die Quinte ist nicht der einzige Bruch unter unseren Tonleiterintervallen. Ganzzahlige Brüche definieren die wichtigsten Tonintervalle. Mit einer einfachen Konstruktionsregel finden wir sie. Auf einem Fortsetzungbeitrag erkläre ich das Prinzip, das auf bemerkenswerte Weise Mathematik, Physik und menschliches Empfinden zusammenbringt.


Dies ist ein Beitrag zur Entstehung der Tonleitern


 

Reale Constraints für Tonleitern

Dies ist ein Beitrag zur Entstehung der Tonleitern und setzt den Beitrag zur Wahrnehmung der Oktave fort.

Funktioniert das Zusammentreffen der drei Welten nur für die Oktave?

Die Oktave zeigt, wie mit der mathematisch organisierten Obertonreihe die Mathematik, also die ideale (Penrose: platonische) Welt in die physikalische Welt eintritt und wie dieses Zusammentreffen von Mathematik (ganze Zahlen) und Physik (schwingende Materie) ein ganz spezielles Phänomen ermöglicht, nämlich die Resonanz. Die Resonanz wiederum nehmen wir Menschen subjektiv (Penrose: mentale Welt) als etwas ganz besonderes wahr. Zwei Töne im Abstand von einer Oktave erkennen wir subjektiv als gleiche Töne. Jedem von uns erscheint – unabhängig von der kulturellen Prägung – ein Ton mit der doppelten Frequenz als der «gleiche» Ton (Happy-Birthday-Experiment).

Wenn das Frequenzverhältnis (Mathematik) nur ein bisschen abweicht, verschwindet die Resonanz (Physik) und die Töne erscheinen uns (mental) als verschieden, ihr gemeinsames Erklingen als ein Missklang.

Bei der Oktave als erstem Oberton verbinden sich also die drei Welten. Können wir die auf die Oktave folgenden weiteren Obertöne ebenfalls für unsere Tonleiter verwenden? Die Antwort auf diese Frage ist kein einfaches Ja, denn die mathematische Reihe der ganzen Zahlen muss sich in die Sachzwänge der physikalischen und der mentalen Welt einfügen.

Was sind das für Zwänge? Und ist die Obertonreihe überhaupt eine Tonleiter, die in der Praxis Sinn macht?

Sachzwänge (Constraints) in der physikalisch / mentalen Welt
Töne dienen der Kommunikation und Säugetiere und Menschen kommunizieren akustisch. Sie sind fähig, Laute zu produzieren und sie zu hören. Diese physikalisch/mentale Gegebenheiten der Kommunikation müssen wir berücksichtigen, wenn wir uns überlegen, wie die Tonleitern entstanden sind.

Wir können nämlich mit unserer Stimme nicht Tonhöhen beliebiger Frequenz produzieren. Und wenn zwei Töne von ihrer Frequenz sehr weit auseinander sind, können wir schlecht ihren gegenseitigen Abstand messen (mentale, subjektive Welt). Deshalb dürfen die Töne einer Tonleiter nicht zu weit voneinander entfernt sein. Dies ist der erste Sachzwang der physikalischen und mentalen Welt bei der Bildung von Tonleitern.

Diese physikalisch/mentale Einschränkung kann noch weiter begründet und präzisiert werden: Weil wir einen zweiten Ton eine Oktave höher als den «gleichen» Ton wahrnehmen (Happy-Birthday-Experiment), darf eine Tonleiter den Bereich einer Oktave nicht überschreiten. Es gäbe sonst eine Überschneidung der Tonleiter mit sich selber, weil Töne ausserhalb der Oktave innerhalb der Oktave sofort einen «gleichen» Ton finden.  Aus diesem Grund ist eine Tonleiter immer auf den Bereich einer Oktave beschränkt, genau so wie wir es in allen Musikkulturen auch feststellen können.

Die Töne dürfen andererseits auch nicht zu nah beisammen sein, denn dann können wir sie nicht mehr unterscheiden. Die Tonleitertöne dürfen aus diesem Grund nicht beliebig viele Töne haben – auch wenn dies mathematisch durchaus denkbar wäre. Doch nicht alles, was mathematisch möglich ist, macht in der Realität Sinn.

Die Folgen aus diesen Bedingungen für Tonleitern lassen sich in zwei Punkten zusammenfassen:

  1. Die Töne der Leiter dürfen sich nur im Raum einer Oktave bewegen.
  2. Es dürfen nicht zu viele Töne in der Tonleiter vorkommen.

Dies ist das physikalisch/mentale Constraint für Tonleitern.


Wie können nun unter diesen Constraints überzeugende Tonleitern entstehen? Können das weiterhin solche sein, die einfache mathematische Verhältnisse aufweisen?  → siehe Folgebeitrag.


Dies ist ein Beitrag zur  Entstehung der Tonleitern


 

Die Wahrnehmung der Oktave mental

Dies ist ein Beitrag zur Entstehung der Tonleitern und setzt den Beitrag zur Resonanz der Oktave fort.


Die subjektive Seite

Die mathematische oder nach Penrose platonische Welt mit ihren einfachen Zahlenverhältnissen und die physikalische Welt mit ihren Resonanzphänomenen bringt uns die Oktave näher, erklärt aber noch nicht, weshalb dieses Intervall in allen Kulturen die Basis von allen Tonleitern ist. Dazu müssen wir auch die mentale Welt betrachten, das heisst die Welt unserer subjektiven Wahrnehmung.

Diese ist zwar allen zugänglich, doch es bleibt ihre eigene und subjektive Wahrnehmung. Ich kann nicht in Ihren Kopf sehen. Zwar können bildgebende Verfahren (MRI, PET) objektiv feststellen, welche Hirnareale wann aktiv sind, doch was auf diese Weise wahrnehmbar wird, ist der Blutfluss an einer bestimmten Stelle und nicht der Gedanke, wie Sie ihn erleben.

Happy Birthday

Die mentale Welt ist Ihre höchst persönliche Welt, doch für das Primat der Oktave trägt sie einiges bei. Wieder schlage ich ein kleines Experiment vor, zwar kein objektives wie im Vorbeitrag, doch ein durchaus nachvollziehbares. Der Vorteil ist: Mit grosser Wahrscheinlichkeit haben Sie es bereits schon mehrmals durchgeführt.

Es kann auch das Weihnachtslied im Familienkreis sein. Mehrere Menschen singen zusammen und wenn wir Glück haben, singen wir einstimmig. Das ist jedenfalls meistens unsere Absicht. Es funktioniert besser, wenn alle Sänger etwa die gleiche Stimmlage haben. Was aber, wenn Frauen und Männer und Kinder zusammen singen? Auch dann erkennen wir, wenn alle einstimmig zusammen sind. Wir singen zwar nicht die gleichen Frequenzen, sondern Frequenzen mit einer Oktave Abstand, merken das aber praktisch nicht. Der Abstand von einer Oktave klingt für uns als der gleiche Ton. Wenn ich als Bass neben dem Alt die tiefere Oktave nicht treffe, singe ich falsch, wenn ich sie treffe, singe ich richtig. Das ist die subjektive Wirkung der Oktave: Es ist der gleiche Ton.

Die Resonanz in der physikalischen Welt erleichtert dieses subjektive Zusammenfallen der Töne im Oktavabstand, und vermutlich unterstützen uns die Resonanzverhältnisse auf der Basilarmembran des Innenohrs darin, die beiden Frequenzen auch subjektiv in unserer mentalen Welt zusammenzubringen.

Erster und zweiter Oberton

Die Oktave als erster mathematisch-physikalisch möglicher Oberton unterscheidet sich in dieser Beziehung vom zweiten Oberton, der in der Tonleiter auf eine Quint fällt. Zur Verdeutlichung des mathematischen Bezugs zeige ich nochmals die Schwingungsverhältnisse von Grundton und den ersten Obertönen:

Abb. 1: Oktave und Quinte als Obertöne

Weshalb ist nun die Oktave das Merkmal der Einstimmigkeit und nicht die Quinte, obwohl beide mathematisch und physikalisch die engste Beziehung zum Grundton haben? Die Quinte ist zwar mathematisch gesehen etwas weiter weg vom Grundton als die Oktave, aber die Doppeloktave ist es noch weiter und trotzdem empfinden wir die Doppeloktave genau wie die Oktave mental als den «gleichen» Ton wie den Grundton.

In der mentalen Welt, also in unserem Erleben, unterscheiden sich Oktave und Quinte deutlich. In dieser Welt sind die Oktave (und alle Mehrfach-Oktaven) der «gleiche» Ton – die Quinte aber ist ein anderer Ton. Das ist überall auf der Welt so, in allen Kulturen. Weil ein Ton eine Oktave höher als der gleiche Ton empfunden wird, wiederholen sich die Tonleitern eine Oktave höher, und nicht etwa eine Quinte.

Ein Experiment zur Unterscheidung von Oktave und Quinte in der mentalen Welt

Das oben beschriebene Happy-Birthday Experiment kann erweitert werden und so auch den Unterschied zwischen Quinte und Oktave und die besondere Rolle der Oktave zeigen. Sänger können z.B. versuchen, bei der nächsten Geburtstags-Party den Song nicht eine Oktave tiefer (oder höher) zu singen, sondern eine Quinte. Das dürfte ziemlich schwierig für Sie sein, weil Sie eben nicht den «gleichen» Ton singen wie die anderen. Und falls Sie es schaffen, werden die anderen Sie verwundert ansehen, weil Sie eben die Quinte und «nicht den gleichen Ton» singen. Die Oktave ist der «gleiche» Ton, die Quinte ist es nicht.

Über den Zugang zur mentalen Welt

Die mentale Welt lässt sich bekanntlich schwierig beweisen, da sie völlig subjektiv ist. Obwohl jeder mit seinen Gedanken und Empfindungen dauernd in dieser Welt lebt, ist sie objektiver naturwissenschaftlicher Untersuchung nur indirekt zugänglich. Die Inhalte Ihres mentalen Erlebens können Sie anderen Menschen mitteilen, aber ganz sicher können Sie nie sein, dass die anderen sie auch gleich empfinden. Sie können nur hoffen, dass die anderen Ihr Erleben nachvollziehen können. Doch genau dieses subjektive Erleben und Nachvollziehen macht ja die Musik so interessant. Auf eine ganz besondere Weise teilen wir so unsere Subjektivität.

Fazit

Wir sehen, wie sich genau bei der Oktave die mathematische, die physikalische und die mentale Welt treffen. Die einheitliche Bedeutung der Oktave in allen Musikkulturen der Erde ist nur unter Einbezug aller drei Welten verstehbar.


In der Fortsetzung geht es um die weiteren Töne der Tonleitern. Können diese auch so einfach wie die Oktave erklärt werden?


Dies ist ein Beitrag zur Entstehung der Tonleitern


 

Resonanz und Oktave

Dies ist ein Beitrag zur Entstehung der Tonleitern und setzt den Beitrag zur Oktave fort.

Wir erzeugen eine Resonanz

Falls Resonanz für Sie ein abstraktes – oder noch kein erlebtes musikalisches – Phänomen ist, empfehle ich Ihnen folgendes einfaches Experiment: Suchen sie ein Klavier (kein digitales) und auf dem Klavier einen Ton, den Sie gut singen können. Drücken Sie die Taste mit diesem Ton und singen Sie ihn. Das setzt natürlich schon die Resonanz in ihrem Innenohr voraus, sonst würden Sie den Ton nicht treffen. Als nächstes drücken Sie die Klaviertaste, aber so, dass kein Ton erklingt und halten Sie die stumme Taste nach unten gedrückt. So kann die Saite frei schwingen. Jetzt singen Sie den Ton wieder. Wenn Sie die Tonhöhe der Taste erwischt haben, dann erklingt jetzt der Ton im Klavier, ohne dass Sie die Taste erneut anschlagen. Am besten funktioniert das, wenn das Klavier offen ist, und Sie die Saiten sehen können. Aber auch bei geschlossenem Klavierdeckel funktioniert es, Sie müssen eventuell nur ein bisschen lauter singen. Sie können nun verschiedene Töne singen, z.B. eine kleine Melodie und erkennen, dass der Ton im Klavier genau dann erklingt, wenn Ihre Stimme die gleiche Tonhöhe hat wie die Taste.

Falls Sie Mühe haben, den Ton zu treffen, geht es noch einfacher. Drücken Sie auf dem Klavier das Pedal ganz rechts. Jetzt können alle Saiten frei schwingen. Rufen Sie jetzt laut auf das Klavier ein, am besten bei offenem Deckel. Wieder hören Sie, wie die Saiten schwingen, als Echo auf ihre Stimme.

Einfache Resonanz

Die «Fernwirkung» im obigen Experiment ist keine Hexerei, sondern durch Schallwellen vermittelt. Diese treten mit der Saite in Resonanz. Das typische daran ist, dass die Resonanz nicht bei jeder Frequenz auftritt, sondern genau dann, wenn die Schallwelle die Eigenfrequenz der Saite trifft. Eigenfrequenzen sind Eigenschaften von vielen physikalischen Systemen, z.B. kann auch eine Brücke eine Eigenfrequenz haben oder ein Glas, ein Stück Holz oder ein Topf. Saiten- und Blasinstrumente sind dahingehend perfektioniert, dass sie besonders gut klingen, d.h. dass ihre Eigenfrequenzen besonders kräftig und klangvoll sind.

Resonanzen höheren Grades

Wieder schlage ich ein kleines Experiment vor und wieder benötigen Sie ein Klavier, diesmal sollte es gestimmt sein.

Abb 1: Zwei C’s auf dem Klavier im Abstand einer Oktave

Drücken Sie nun die Taste C auf dem Klavier, und zwar die obere (rechte) Taste C. Auf dem Klavier hat es natürlich viele von diesen C’s, nehmen Sie am besten zwei benachbarte C’s in der Mitte der Tastatur, dort ist das Experiment am deutlichsten zu hören. Sie können auch andere Töne als C’s nehmen, das Experiment funktioniert mit allen Tönen, Voraussetzung ist allerdings, dass der Abstand zwischen den beiden Tönen genau eine Oktave ist. Sie erkennen jetzt auch, woher die Oktave ihren Namen hat, das obere C ist acht (lateinisch: octo) Töne vom unteren entfernt (bei der Zählung wird für die musikalischen Intervalle der Ausgangston immer mitgezählt).

Sie haben jetzt die obere (rechte) C-Taste stumm nach unten gedrückt. Schlagen sie jetzt die untere C-Taste kurz und kräftig an. Sie hören jetzt wieder eine «Fernwirkung». Offensichtlich ist die Saite des oberen C’s durch den Anschlag des unteren in Schwingung geraten. Schlagen Sie nun eine Taste gleich links oder rechts neben dem unteren C an. Bei diesen Tasten können Sie das obere C nicht zum Klingen bringen, es entsteht keine Resonanz.

Weshalb genau bei einer Oktave eine Resonanz entsteht

Grundton und Obertöne

Abb. 2:  Mögliche Schwingungen einer Saite
In Abb. 2 sehen Sie fünf mögliche Schwingungsmuster für eine gespannte Seite. Unten (bei 1) schwingt die Saite mit genau einem Bauch in der Mitte. Bei 2 hat es zwei Bäuche, bei 5 fünf. Gelb ist die schwingende Saite gezeichnet, der schwarze Strich zeigt die korrespondierende Schallwelle, d.h. die Schallwelle (Wanderwelle), welche die gleiche Frequenz hat wie die stehende Welle, welche die klingende Saite darstellt. Diese Frequenz hat die Wellenlänge λ, ist also doppelt so lang wie die Saite.

Der Zustand 1 ist nun der Grundzustand, d.h. der Ton, der im oben vorgeschlagenen Experiment erklingt, wenn Sie eine Klaviertaste drücken. Der Zustand 2 ist der nächste erlaubte Zustand der Schwingung. Hier schwingt die Saite mit zwei Bäuchen, bei 3 sind es drei, etc. Alle Zustände also, bei denen die Saite an den Enden, an denen sie befestigt ist, nicht ausschwingt, sind Zustände, die ein ungehindertes Schwingen der Saite erlauben. Somit ist nicht nur der Zustand der einfachen Saitenschwingung möglich, sondern im Prinzip jeder, der einer Wellenlänge entspricht, die ganzzahlig in die Saitenlänge passt. Bei Zustand 2 ist die Wellenlänge halb so lang wie im Grundzustand und die Frequenz somit doppelt so gross (schnell,hoch). Zustand 2 entspricht mit seiner doppelt so grossen Frequenz dem Ton, der eine Oktave höher klingt, Zustand 4 dem Ton, der zwei Oktaven höher klingt.

Weshalb nun klingt das höhere C nun mit, wenn Sie, wie im Experiment oben vorgeschlagen, das tiefere C anschlagen? – Der Grund liegt darin, dass die Saite des tiefen C’s – wie jede Saite – nicht nur in der Grundschwingung (Zustand 1 in Abb. 2) erklingt, sondern mehr oder weniger in allen erlaubten Schwingungen. Diese Schwingungen überlagern sich also. Wenn nun die von der tieferen Saite ausgehenden Schallwellen die Saite des höheren C’s erreichen, dann enthalten sie neben der Grundschwingung immer etwas leiser auch die höheren Schwingungen und somit genau auch die Schwingung der Saite des höheren C’s. Einer Resonanz steht dadurch nichts mehr im Weg.

Sinusschwingung und Obertöne

Die schwarzen Kurve in Abb. 2 sind mathematisch gesehen Sinuskurven. Mit einem technischen Gerät ist es möglich, solche Kurven akustisch zu erzeugen, man spricht dann von einem Sinusschwingung. Mit natürlichen Klangkörpern, also der Klaviersaite, Ihrer Stimme oder überall sonst in der Natur kommen solche reinen Sinusschwingungen nicht vor, sondern die so erzeugten Schallwellen enthalten immer auch die höheren Schwingungen (Stufen 2 ff. in Abb. 2) in komplexen Überlagerungen mit. Man spricht von Obertönen. Die Anteile der einzelnen Obertöne, d.h. wie viel von den Schwingungen der Stufen 2 und folgende jeweils neben dem Grundton in der Mischung des Klangs mitschwingt, ist sehr variabel und wird von den physikalischen Eigenschaften des klangerzeugenden Mediums bestimmt. Diese Mischungen machen den Charakter des Klangs des jeweiligen Instruments aus.


Interpretation der Saitenschwingungen in den drei Welten

Platonisch → Physikalisch (Von einfach zu komplex)

Wir sehen am Beispiel der schwingenden Saite, wie mathematische Gesetzmässigkeiten aus der  platonischen Welt die physikalische Welt bestimmen. In der physikalischen Welt kommen sie aber sehr verschieden an und es entsteht eine grosse Vielfalt: Auf der Saite entstehen gleichzeitig mehrere Schwingungen, neben dem Grundton entstehen immer gleichzeitig viele Obertöne. Jede einzelne dieser Schwingungen kann mathematisch sehr einfach beschrieben werden. Die Mischung jedoch ist äusserst komplex.

Was mathematisch, d.h. in der abstrakten platonischen Welt sehr einfach ist, wird schnell komplex, sobald es in der physikalischen Welt wirkt.

Die unendliche Treppe in Penrose und «Anti-Penrose»-Richtung

Die Trichter in der Skizze von Penrose stellen m.E. nur eine Richtung der Verhältnisse dar. Penrose betont in seiner Darstellung, dass nicht die ganze Mathematik gebraucht wird, um die Physik zu beschreiben und kommt so zu Mengenverhältnissen, wie sie in der Skizze mit den Trichtern dargestellt sind und die wie die ewige Treppe der Logik zu widersprechen scheinen.

Doch meines Erachtens können die Trichter auch in der Gegenrichtung gesehen werden, dann wenn man die Informationsmenge betrachtet. Diese ist in der physikalischen Welt grösser als in der platonischen. Beim Eintreten der Mathematik in die Physik entsteht Neues, nämlich die komplexe Vielfalt der Mischungsverhältnisse. Diese konkrete Vielfalt in der physikalischen Welt stellt eine Information dar, die weit über die Information der ursprünglichen mathematischen Welt hinausgeht. Die Informationsmenge nimmt in Richtung von platonisch zu physikalisch zu. Das stellt mengenmässig eine Gegenbewegung zum Trichter von Penrose dar. Die unendliche Treppe der drei Welten verliert so bei näherem Hinsehen etwas von ihrem Paradoxie-Schrecken.

Platonisch → Mental

Vermutlich haben Sie schon technisch erzeugte Sinusschwingungen gehört. Sie standen am Anfang der elektronischen Musik und hatten damals den Reiz des Neuen und Technischen. Gerade ihre nackte Reinheit war beeindruckend. Allerdings sind diese Töne sind sehr schnell auch sehr langweilig. Die Reinheit und die sterile Banalität dieser technischen Klänge ist verursacht durch das fehlende Mitschwingen der Obertöne. Die reichhaltigen Informationen dieser Zusatzschwingungen nehmen wir als Hörer wahr und sie machen den Reichtum der natürlichen Klänge aus. Ich möchte nicht auf sie verzichten.


In einem Fortsetzungsbeitrag möchte ich erklären, weshalb die Oktave in der mentalen Welt so wichtig ist und was das dazu beiträgt, dass die Tonleitern in allen Kulturen stets die Oktave als Basis haben.


Dies ist ein Beitrag zur Entstehung der Tonleitern


 

Die Oktave

Eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit

Alle Tonleitern, die ich kenne, bewegen sich im Bereich einer Oktave. Auch Tonleitern, die für uns Europäer ungewöhnlich klingen, arabische, indische, japanische und afrikanische bewegen sich innerhalb genau einer Oktave, d.h. ihr tiefster und ihr höchster Ton haben den Abstand von genau einer Oktave, was für eine Tonart das auch ist.

Ich finde das äusserst bemerkenswert. Das ist so, als ob alle Sprachen der Welt, die ja sehr unterschiedliche Wörter haben, für einen bestimmten Begriff das gleiche Wort verwenden würden, und zwar schon immer und ganz unabhängig voneinander. Woher kommt das?

Die Drei-Welten-Theorie kann nun diese ungewöhnliche Gemeinsamkeit der Tonarten aller menschlichen Kulturen plausibel erklären.

Die Oktave platonisch

Wenn Sie eine Saite auf einer Geige zupfen, erhalten Sie einen Ton. Wenn Sie nun den Finger genau in der Mitte der Saite auf das Griffbrett drücken und dann zupfen, erklingt die Saite eine Oktave höher. Das gleiche gilt für Pfeifen. Eine Pfeife, die halb so lang ist wie eine andere, klingt eine Oktave höher. Offensichtlich liegt der Oktave ein Verhältnis 1:2 zugrunde. Das ist die platonische, d.h. mathematische Seite der Oktave. Einfache mathematischen Verhältnisse (= Brüche) spielen auch bei anderen Intervallen eine Rolle, worauf wir noch kommen werden.

Diese mathematischen Verhältnisse der Verhältnisse zwischen den Tönen – das heisst der Intervalle – sind schon lange bekannt und wurden vom Griechen Pythagoras gelehrt, der vor Sokrates und Platon eine einflussreiche Schule in Süditalien begründete.

Abb. 1: Eine schwingende Saite. Oben ist die Saite links und rechts (0 und 1) befestigt, kann dort also nicht schwingen. Je weiter weg von der Befestigung, umso stärker schwingt sie aus, am meisten in der Mitte. Unten ist in der Mitte ein Finger auf die Seite gedrückt, und sie schwingt nun in der halben Länge und eine Oktave höher. (Mit diesen Beschreibungen sind wir aber von der platonischen bereits in die physikalischen Welt eingetreten).

Das einfaches Zahlenverhältnis erklärt die Einzigartigkeit des gemeinsamen Merkmals Oktave über alle menschlichen Kulturen noch nicht. Weshalb spielt das Zahlenverhältnis für die Tonleitern überhaupt eine Rolle?

Zur Erklärung müssen wir die beiden anderen Welten ansehen, nämlich die physikalische, in der Töne erklingen, und die mentale, in der wir sie wahrnehmen.

Die Oktave physikalisch

Töne

Töne sind materielle Schwingungen in einem Trägermedium, z.B. Luft. Ein Ton enthält ist in der Regel eine Überlagerung von mehreren Schwingungen (Grundton plus Obertöne). An dieser Stelle schauen wir aber nur die Grundschwingung an, die die erkennbare Tonhöhe bestimmt.

Diese Grundschwingung ist eine Sinuskurve und die Tonhöhe wird als Frequenz angegeben, z.B. 440 Hz. Diese Frequenz bedeutet, dass die Sinuskurve 440 mal pro Sekunde hin und her schwingt. Das gleiche tut auch die Saite.

Die Saite schwingt an Ort, man spricht von einer stehenden Welle (siehe Abb. 1 oben). Die Schwingung in der Luft hingegen bewegt sich vom Ort fort (Wanderwelle). Durch ihre stationären Schwingung kann die Saite die Luft bewegen und führt so zu einer Schwingung in der Luft, einer Schallwelle. Dabei überträgt die Saite die Eigenschaften ihrer Schwingung, insbesondere deren Frequenz, auf die Schallwelle.

Die Wellenlänge in einer Wanderwelle, also einer Schallwelle, aber auch z.B. einer Welle auf der Wasseroberfläche ist der Abstand der Wellenbäuche (oder Wellenkämme)  voneinander. Bei einer stehenden Welle, also der Saite in Abb. 1 ist die Wellenlänge gleich der (doppelten) Länge der schwingenden Saite.

Wenn nun die Geschwindigkeit der Wanderwelle konstant ist, dann müssen mehr Wellenbäuche hintereinander kommen, je kürzer die Abstände zwischen ihnen sind. Die Abstände zwischen den Wellenkämmen entsprechen der Wellenlänge, die Zahl der Kämme pro Zeit der Frequenz der Welle. Je mehr Kämme an einem Ort durchlaufen, umso kleiner sind ihre Abstände.

Zwischen der Wellenlänge und ihrer Frequenz besteht somit ein umgekehrt proportionales Verhältnis, d.h. je kürzer die Wellenlänge umso höher muss die Frequenz sein. Deshalb schwingt die halb so lange Saite doppelt so schnell. Das ist der physikalische Ursprung der Oktave.

Tonentstehung

Wie kommt nun die Schwingung in die Saite? Dies rührt daher, dass eine gespannte Saite eine Tendenz zu einer Eigenschwingung hat, Die Spannung der Saite führt dazu, dass ein Anstoss, z.B. ein Zupfen der Saite, in ihr eine Bewegung auslöst, die an den beiden Enden der Saite nicht aufhört, sondern wieder zurück gestossen wird. Auf diese Weise bildet sich die stehende Welle aus. Die Wellenlänge, also der Abstand der Wellenbäuche, wird dabei von der Länge der Saite bestimmt. Der Grund dafür ist, dass an den beiden Enden der Saite keine Bewegung mehr möglich ist, da sie ja dort fest fixiert ist. Ausschwingen kann die Welle nur dazuwischen. Die Wellenlänge muss also genau in die Länge der Saite passen.

Die Oktave mental

Das Innenohr

Wir nehmen Töne mit unseren beiden Innenohren wahr. Diese sind äusserst raffiniert gebaute Organe mit einer schneckenförmigen Struktur, weshalb man auch von der Hörschnecke spricht. Die Schallwelle durchwandert von aussen her die flüssigkeitsgefüllte Hörschnecke und erzeugt durch Resonanz eine Schwingung der sogenannten Basilarmembran, welche  die gesamte Schnecke durchzieht. Entlang der Basilarmembran nehmen sogenannte Haarzellen die Schwingungen der Basilarmembran auf und leiten sie als elektrische Signale nach innen ins Hirn. Durch den komplexen und raffinierten Bau der Schnecke, der hier nur kursorisch beschrieben ist, können die akustischen Signale analytisch zerlegt werden, sodass je nach Frequenz unterschiedliche Haarzellen angeregt werden, je höher die Frequenz umso näher am Eingang der Schnecke, je tiefer umso mehr im Innern.

Die Tonwahrnehmung mental

Bis hier hat die Beschreibung der Tonwahrnehmung über das Innenohr noch nichts mit der mentalen Welt zu tun, es handelt sich nur um die anatomischen Voraussetzungen, d.h. den physikalischen Apparat, der die physikalischen Signale (die Schallwellen) gezielt für die eigentliche Wahrnehmung vorbereitet. Diese findet im Gehirn statt und ist ein subjektiver Vorgang.

Subjektive Vorgänge zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht von aussen nachvollzogen werden können. Wie Sie etwas hören und empfinden, weiss ich nicht, das ist ganz Ihre Welt. Allerdings haben wir als Menschen so viele Gemeinsamkeiten, dass ich in davon ausgehen kann, dass Sie vieles ganz ähnlich erleben wie ich. Wir haben die gleiche Anatomie und die gleichen Lebensbedingungen. Weshalb empfinden viele Menschen die gleiche Musik als schön? Wenn wir von der gleichen Musik gerührt werden, sie gleich wie andere als fröhlich, traurig, tröstend, mitreissend usw. empfinden, zeigt das, dass unsere mentalen Welten trotz ihrer Subjektivität stark verbunden sind.

Dabei spielen kulturelle Aspekte – also gelernte Gewohnheiten – eine ganz wichtige Rolle. Auch die Kultur gehört letztlich in die mentale Welt, sie ist der Geist, d.h. die Subjektivität, die wir teilen. Diese Subjektivität, die individuelle wie die kollektive, fusst aber auch auf den physikalischen Voraussetzungen.

Somit sind wir wieder bei unserem Thema: Weshalb haben alle Kulturen der Menschen die Oktave in ihren sonst so verschiedenen Tonleitern?

Der Grund ist physikalisch erklärbar und liegt in der Resonanz.

Die Resonanz

Resonanz ist eine Voraussetzung, dass die Töne im Innenohr überhaupt ankommen. Denn die Basilarmembran im Innenohr übernimmt die Schwingungen der Schallwellen auf eine ganz bestimmte Weise. Nicht alle Frequenzen finden auf der Basilarmembran die gleiche Resonanz. Das Innenohr ist so gebaut, dass die Basilarmembran am Eingang mit hohen Frequenzen in Resonanz gerät und in der Tiefe mit tiefen. So analysiert das Ohr die verschiedenen Tonhöhen. Aber die Resonanz ist noch für viel mehr verantwortlich, u.a. auch dafür, dass in den tausenden unterschiedlichen Tonleitern die Oktave immer vorkommt. Dieser auffällige Beobachtung werden wir im Fortsetzungsbeitag verfolgen.


Dies ist ein Beitrag zur Entstehung der Tonleitern


 

Tonleitern in der 3-Welten-Theorie

Tonleitern sind Muster

Wenn Sie eine Melodie hören, steht dahinter eine Tonleiter, d.h. ein Angebot von wenigen, ganz bestimmten Tönen, die überhaupt in der Melodie vorkommen können. Diese Töne in einer linearen Folge bilden die Leiter. Die meisten Melodien, die in unserem Kulturkreis zu hören sind, lassen sich auf eine einzige Tonleiter, die ionische oder Dur-Tonleiter zurückführen, die sieben Töne in ganz bestimmten Abständen aufweist.

Tausende von Tonleitern

Es gibt aber Tausende von unterschiedlichen Tonleitern. Vermutlich kennen Sie neben Dur auch Moll und haben vielleicht etwas von der Pentatonik gehört, von Ganztonleitern, von Phrygisch und Lydisch, von indischen Ragas, japanischen und afrikanischen Tonleitern. Alle diese Tonleitern sind verschieden.

Trotzdem haben sie, wie wir sehen werden, einige verblüffende Gemeinsamkeiten. Warum sollten die Menschen überall auf der Welt in allen Kulturen und bei allen Unterschieden sich freiwillig, ausnahmslos und strikt an diese Gemeinsamkeiten halten? Die Gründe dafür lassen sich gut erklären, wenn man nicht nur eine Welt anschaut, sondern das Zusammenspiel aller drei Welten.


In welcher der drei Welten existiert die Tonleitern?

Tonleitern sind Teil unserer Realität, wie immer wir Realität definieren. Es sei denn, wir definieren die Realität als das, was wir Materie nennen. Dann sind die Tonleitern nicht Teil der Materie. Sie prägen sich zwar in der physikalischen Welt aus, z.B. wenn ein Mensch sie singt oder spielt, aber sie haben eine Identität, die unabhängig von der jeweiligen Ausführung ist. Die Tonleiter ist also in diesem Sinn nichtlokal, wie es typischerweise Entitäten in der platonischen Welt sind. Zwischen der Tonleiter und ihrer Ausführung besteht dann das Verhältnis von einem abstrakten, d.h. platonischen Muster zu seiner materiellen Instanz. Es handelt sich immer dabei um ein 1/n – Verhältnis, denn das Muster ist einmalig, doch daraus können beliebig viele Instanzen gewonnen werden.

Als Muster gehört die Tonleiter in die platonische Welt, auch wenn sie sich in die materielle Welt hinein ausprägt. Gerade die Mathematik hat viel mit der Form der Tonleitern zu tun, was leicht zu zeigen ist, doch andererseits müssen Sie gar nichts von dieser Mathematik wissen, um Tonleitern korrekt zu erkennen und oder zu singen. Ihre mentale Welt, in der Sie die Tonleiter erleben, braucht keine Zahlen und Formeln.

Eine Tonleiter existiert somit in allen drei Welten:

Platonische Welt: Hier existiert die Tonleiter als eine Entität, d.h. als eine Einheit und Ganzheit. Hier existiert jede Tonleiter nur einmal.

Physikalische Welt: Hier existiert die Tonleiter als eine beliebige Zahl von Vorkommnissen – wann immer Melodien auf ihrer Basis ertönen.

Mentale Welt: Hier, nämlich in Ihrem Kopf, erkennen Sie die Melodien und Tonleitern.

Selbstverständlich ist jede Welt ganz auf ihre eigene Weise organisiert. Wie spielen nun die drei Welten zusammen? Wir schauen das am Beispiel der Oktave an.


Dies ist ein Beitrag zur Drei-Welten-Theorie.

 

Die platonische Welt

Warum ‹platonisch›?

Penrose bezeichnet eine der drei Welten in der Drei-Welten-Theorie als platonisch. Weshalb?

Platon

Der reiche Athener Bürger Platon war ein Anhänger des Philosophen Sokrates. Er hat im 4. Jahrhundert vor Christus eine Philosophenschule gegründet, die für die europäische Philosophie grundlegend war und die philosophische Diskussion bis in unsere Zeit entscheidend prägte. Wenn also Roger Penrose eine der drei Welten ‹platonisch› nennt, bezieht er sich auf Platon und im Speziellen auf eine bestimmte Frage und den Diskurs darüber, der bis heute ausstrahlt. Die Frage lautet: Sind Ideen real?

Platons Ideenrealismus

Oft wurde von den nachfolgenden Philosophen das Thema als ein Konflikt zwischen Platon und seinem Schüler Aristoteles dargestellt. Platon wird die Haltung zugeschrieben, dass die Ideen nicht nur real seien, sondern sogar die eigentliche Realität, und das, was wir als Realität bezeichnen, nur ein Abklatsch der Ideen. Penrose bezeichnet nun die abstrakte Welt der Mathematik als ‹platonische› und nimmt damit Bezug auf den Gedanken Platons, dass nämlich den abstrakten Ideen ein Realitätswert zukommt.

Die Ideenwelt als eine der drei Welten

Die platonische Realität der Ideen wurde natürlich auch bestritten und Europas Philosophiegeschichte ist voll von Pros und Contras dazu, die unter den Stichworten Realismus, Nominalismus und Universalienstreit den Diskurs der Philosophen über viele Jahrhunderte geprägt haben und im Hintergrund auch heute noch wirksam sind. Die Theorie von Penrose ordnet nun wie Platon der abstrakten platonischen Welt eine Realität zu, aber nicht die der einzigen Realität, wie das ein kompromissloser platonischer Realismus tun würde, sondern als eine der drei Realwelten, die miteinander im Austausch stehen. Es geht also bei der Drei-Welten-Theorie nicht darum, welche Welt die reale oder wahre sei – wie etwa im Universalienstreit –, sondern darum, wie der Austausch zwischen ihnen stattfindet.

Doch zurück zur platonischen Welt. Was zeichnet sie gegenüber den anderen beiden aus?

Charakteristika der platonischen Welt

Nicht-Lokalität

Wo ist die Zahl ‹3›? Können Sie irgendwo in Ihrer Umgebung darauf zeigen?

Sie können natürlich auf drei Äpfel zeigen, auf drei Bleistiftstriche oder auf drei Kaffeetassen, aber das ist nicht die Zahl Drei, sondern das sind Äpfel, Bleistiftstriche und Kaffeetassen. Die Zahl Drei bleibt abstrakt. Niemand kann darauf zeigen.

Selbstverständlich können Sie auch das Wort ‹drei› oder auf die ‹3› in diesem Text zeigen, aber das sind nur die Symbole für die Zahl und nicht die Zahl selber. Die Zahl selber bleibt abstrakt; sie existiert gleichzeitig überall und nirgendwo.

Symbole stehen immer an einem bestimmten Ort, sie sind also lokalisiert. Die Zahl selber aber ist nicht-lokal, d.h. es gibt keinen Ort im Universum, an dem sich die Zahl befindet, sie befindet sich vielmehr überall. Es gibt sie auf der Erde, dem Mond und ebenso auf der Andromeda. Diese Nicht-Lokalität ist eine ganz elementare Eigenschaft der Objekte der platonischen Welt, und sie zeichnet sie insbesondere gegenüber den Objekten der physikalischen Welt aus, in der die Objekte örtlich definiert, d.h. lokalisiert sind.

Zeitlosigkeit

Mit der Zeit verhält es sich analog zum Ort:

1 plus 2 sind 3 – das ist wahr, und zwar gestern, heute, morgen und in alle Ewigkeit. Man kann die platonische Welt in diesem Sinn als einen Ort der ewigen Wahrheiten bezeichnen, ganz im Gegensatz zur physikalischen Welt, die dem steten Wandel unterworfen ist. Wenn es heute regnet, kann morgen die Sonne scheinen, 1 plus 2 hingegen ergibt an allen Tagen drei. Diese Zeitlosigkeit gilt für alle mathematische Aussagen, aber auch für ihre Objekte, wieder im Gegensatz zu den Objekten der physikalischen Welt: die Zahl 3 ist zeitlos, 3 Äpfel hingegen sind es nicht.


Dies ist ein Beitrag zur 3-Welten-Theorie.

Das Bit hat keine Bedeutung

Das Bit ist die Basis der IT

Unsere Informationstechnologie baut auf dem Bit auf. Alles, was in unseren Computern geschieht, basiert auf diesem kleinsten Basiselement der Information. Wenn Sie gefragt werden, was ein einzelnes Bit bedeutet, werden Sie möglicherweise antworten, dass das Bit zwei Zustände einnehmen kann, von denen der eine 0 ist und der andere 1 bedeutet. Auf diese Weise können wir bekanntlich beliebig hohe Zahlen schreiben, wir müssen einfach genügend Bits hintereinander reihen.

Aber stimmt das auch? Bedeutet wirklich der eine Zustand im Bit 0 und der andere 1? Können die beiden Zustände nicht auch ganz andere Bedeutungen annehmen?

Dem Bit können beliebige Bedeutungen zugeschrieben werden

In der Tat können die beiden Zustände des Bits irgendeine Bedeutung einnehmen. Beliebt sind neben 0/1 auch Wahr/Falsch, Ja/Nein, Positiv/Negativ, aber im Prinzip und in der Praxis können dem Bit von aussen irgendwelche Bedeutungen zugeschrieben werden. Selbstverständlich sind auch Umkehrungen erlaubt, also neben 0/1 auch 1/0.

Die Zuschreibung der Bedeutung des Bits erfolgt von aussen

Ob das konkrete Bit im Computerprogramm nun 0/1 oder 1/0 oder irgendetwas anderes bedeutet, spielt selbstverständlich eine entscheidende Rolle. Die Bedeutung liegt aber nicht im Bit selber, denn das Bit ist eine höchst radikale Abstraktion. Es sagt nur aus, dass zwei Zustände existieren und welcher zur Laufzeit gerade aktuell ist. Was die beiden aber bedeuten, ist eine ganz andere Geschichte, die über das einzelne Bit weit hinausgeht. In einem Computerprogramm kann z.B. deklariert werden, dass das Bit dem Wertepaar TRUE/FALSE entspricht. Das gleiche Bit kann aber auch mit anderen Bits zusammen als Teil einer Zahl oder eines Buchstabencodes interpretiert werden – sehr unterschiedliche Bedeutungen also, je nach Programmkontext.

Digitaler und analoger Kontext

Das Softwareprogramm ist der digitale Kontext und er besteht selbstverständlich aus weiteren Bits. Diese Bits aus der Umgebung können verwendet werden, um die Bedeutung eines Bits zu bestimmen. Nehmen wir an, unser Bit sei mit weiteren Bits daran beteiligt, den Buchstaben ‹f› zu definieren. Unser Programm sei auch so organisiert, dass dieser Buchstabe in eine Tabelle zu stehen kommt, und zwar in eine Spalte, die mit ‹Geschlecht› überschrieben ist. All dies ist in der Software klar geregelt. Legt nun die Software die Bedeutung des Bits fest? Sicher sind Sie nicht überrascht, wenn das ‹f› die Bedeutung ‹feminin› hat und die Tabelle vermutlich verschiedene Personen auflistet, die männlich oder weiblich (f) sein können. Was aber bedeuten männlich und weiblich? Erst in der analogen Welt bekommen diese Ausdrücke eine Bedeutung.

Das Bit, die perfekte Abstraktion

Das Bit stellt in der Tat den Endpunkt einer radikalen Informationsabstraktion dar. Die Information ist im einzelnen Bit soweit auf das absolut Elementare reduziert, dass die Information über die Bedeutung aus dem Bit vollständig herausgenommen worden ist. Das Bit sagt nur noch aus, dass zwei – ausserhalb des Bits beschriebene – Zustände existieren und welcher der beiden zu einem bestimmten Zeitpunkt aktuell ist.

Diese radikale Abstraktion ist gewollt und in einer Software sehr sinnvoll. Denn so kann das gleiche physische Bit im Chip des Computer immer wieder neu verwendet werden, einmal als TRUE/FALSE-Paar, einmal als 0/1, einmal als JA/NEIN usw. Das ist sehr praktisch und ermöglicht dem Computer, beliebige Aufgaben zu erfüllen. Die dadurch gewonnene perfekte Abstraktion nimmt dem einzelnen Bit aber gleichzeitig seine individuelle Bedeutung und diese kann und muss dann für jede Anwendung von aussen neu gegeben werden.

Der unendliche Regress

Wenn die Bedeutung des Bits von aussen gegeben wird, dann können natürlich andere Bits diese Aufgabe übernehmen und die Bedeutung des einen Bits definieren. Dazu müssen aber diese äusseren Bits die entsprechende Wirkkraft haben, die natürlich nicht ohne deren eigenen Bedeutung zu haben ist. Und selbstverständlich liegen die Bedeutungen der Bits dieses äusseren Kreises nicht in diesen Bits selber – aus den gleichen Gründen wie oben – sondern sie müssen von aussen, d.h. von einem weiteren Kreis von Bits gegeben werden. Die Bits dieses zweiten äusseren Kreises müssen in einem weiteren Kreis erklärt werden und die Bedeutung der Bits dieses weiteren Kreises wiederum von einem noch äusseren  …  Selbstverständlich kommt dieser Prozess der Bedeutungszuordnung in einer Welt von Bits nie an sein Ende, der Regress ist unendlich.

Erst im Analogen endet der unendliche Regress

Erst wenn wir aus dem Programm in die Realwelt heraustreten, können wir den Informationen aus dem Computer wirkliche eine Bedeutung zuordnen.

Selektiver und deskriptiver Informationsgehalt

Wenn wir das oben Beschriebene rekapitulieren können wir im Bit Folgendes unterscheiden:

Der deskriptive Informationsgehalt sagt aus, was das Bit bedeutet, er beschreibt die beiden Zustände des Bits, sagt aber nicht aus, welcher Zustand aktuell gewählt ist.  Der selektive Informationsgehalt andererseits sagt aus, welcher der beiden Zustände aktuell ist, weiss aber nichts über die Eigenschaften der beiden Zustände, und somit auch nichts über ihre jeweilige Bedeutung.

Die Unterscheidung zwischen selektivem und deskriptivem Informationsgehalt wurden vom britischen Radar-Pionier und Informationswissenschaftler Donald McKay in den 40-er Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt, praktisch gleichzeitig mit der ersten Erwähnung und Beschreibung des klassischen Bits durch den Amerikaner Shannon. McKay hat auch bereits sehr klar erkannt, dass das Bit von Shannon nur einen selektiven Informationsgehalt trägt und der deskriptive muss von aussen gegeben werden.

Erstaunlicherweise ist diese Erkenntnis von McKay heute beinahe in Vergessenheit geraten.

Fazit:

1. Das Bit liefert den selektiven Informationsgehalt.
2. Der deskriptive Informationsgehalt liegt nicht im Bit.
3. Das Bit hat allein somit auch keine Bedeutung.
4. Die Bedeutung des Bits wird stets von aussen gegeben.
5. Dadurch wird ein unendlicher Regress initiiert.
6. Erst im Analogen endet der unendliche Regress.


Mehr zum Thema Information -> Übersichtsseite Informationstheorie


 

Kombinatorische Explosion

Objekte und Relationen

Als erstes schauen wir eine Menge von Objekten an und überlegen uns, wie viele Verbindungen (Relationen) es zwischen ihnen gibt. Dabei legen wir unser Augenmerk nicht auf die Art der Beziehung zwischen den Objekten, sondern beschränken uns darauf, die Relationen zu zählen. Das ist ganz einfach ist, denn im Prinzip besteht zwischen jeweils zwei Objekten immer genau eine Relation. Auch wenn die zwei Objekte nichts miteinander zu tun haben, ist das eine Information, die etwas aussagt, und somit eine gültige, d.h. aussagekräftige Relation. Wir zählen also die Zahl der möglichen Verbindungen zwischen den Objekten zusammen und vergleichen die Zahl der Objekte mit der Zahl der Relationen.

7 Objekte und ihre Relationen
Abb 1: Sieben Objekte und ihre Relationen

In Abb 1 sehen wir sieben Objekte (blau) und ihre Relationen (rot). Jedes Objekt ist mit jedem anderen Objekt verbunden, in unserem Beispiel also jedes der 7 Objekte mit 7-1 = 6 weiteren Objekten. Insgesamt erhalten wir so 7 *6 / 2 = 21 Relationen. Die allgemeine mathematische Formel dafür ist oder NR = (NO2 – NO) / 2. Dabei ist NR die Zahl der Relationen und NO die Zahl der Objekte.
Die Zahl der Relationen nimmt, wie wir aus der Formel ersehen können, im Quadrat zur Zahl der Objekte zu. Nicht-mathematisch ausgedrückt:

Es gibt immer viel mehr Relationen als Objekte, und zwar sehr viel mehr!

Hier eine kleine Tabelle mit den Zahlen für Objekte und Relationen:

NO  NR
———————-
1    0
2    1
3    3
4    6
5    10
6    15
7    21
8    28
9    36
10     45
100   4950
1000    499’500

Tab 1: Objekte und Relationen

Bei kleinen Zahlen fällt die quadratische Steigerung nicht so auf, bei nur leicht grösseren fällt sie aber schon deutlich ins Gewicht. Wir können uns jetzt schon überlegen, was diese Zunahme in der Praxis bedeutet, schauen uns aber vorher noch die Zahl der möglichen Kombinationen an.

Objekte und Kombinationen

Bei Kombinationen geht es darum, wie mehrere Objekte miteinander kombiniert werden können. Während bei den Relationen eine Relation immer genau zwei Objekte verbindet, können Kombinationen beliebig viele Objekte enthalten, also jede Anzahl Objekte von 1 bis alle (= NO).

Tab 2: Objekte und Kombinationen
Tab 2: Objekte und Kombinationen

Tabelle 2 zeigt Mengen mit 1 bis 4 Objekten. Die Anzahl der Objekte ist in der ersten Spalte, diejenige der Kombinationen in der zweiten aufgeführt. Die Objekte sind mit Buchstaben (a, b, c ,d) bezeichnet. In der Spalte ganz rechts sind die jeweils möglichen Kombinationen aufgezählt. Bei nur einem Objekt (a) gibt es gerade einmal eine Kombination, die aus genau diesem Element besteht, bei 2 Objekten gibt es 3 Kombinationen und bei 4 Elementen sind es bereits 15. Die Zahl der Kombinationen pro Objekt nimmt also noch stärker zu als vorher die Zahl der Relationen. Die Formel dafür ist: NC = 2No – 1.

Bei den Relationen wird NO quadriert, während es bei den Kombinationen im Exponenten vorkommt. Dies bewirkt eine noch grössere, nämlich eine exponentielle Steigerung. Die Zahl der möglichen Kombinationen steigt dabei exponentiell zur Zahl der vorhandenen Objekte. Bei 10 Objekten gibt es bereits 1023 Kombinationen, bei 100 Objekten sind es in der Tat 1’267’650’600’228’229’401’496’703’205’375 Kombinationen.

Die Zahl der Kombinationen steigt somit sehr schnell extrem stark an.

Diese exponentielle Zunahme ist die Basis der kombinatorischen Explosion.

Kombinatorische Explosion

Nehmen wir an wir haben verschiedene Objekte mit verschiedenen Eigenschaften, z.B.:

4 Formen: rund, quadratisch, dreieckig, sternförmig.
8 Farben: rot, orange, gelb, grün, blau, braun, weiss, schwarz.
7 Materialen: Holz, PVC, Aluminium, Karton, Papier, Glas, Stein.
3 Grössen: klein, mittel, gross.

Diese vier Klassen mit ihren insgesamt 22 Eigenschaften können wir nun beliebig kombinieren, ein Objekt kann also z.B. dreieckig, grün, mittelgross und aus PVC sein. Wie viele verschiedenartige Objekte können wir mit den 22 Eigenschaften nun insgesamt unterscheiden?

Die Antwort ist, dass aus jeder der vier Klassen (Form, Farbe, Material, Grösse) je eine Eigenschaft unabhängig gewählt werden kann. Das ergibt insgesamt 4x8x7x3 = 672 Möglichkeiten der Kombination. Mit 22 Eigenschaften können also 672 verschiedene Objekte beschrieben werden. Für jede weitere Klasse multipliziert sich die Zahl der Möglichkeiten.

Schon nach wenigen zusätzlichen Klassen explodiert die Zahl der möglichen Kombinationen regelrecht.

Das ist die kombinatorische Explosion. Sie spielt in ganz vielen Situationen eine entscheidende Rolle.


Nachtrag vom 23.3.2020

Beispiele für exponentielles Wachstum:
– Epidemien
– Zins und Zinseszins
– Gewisse Treibhausgase
– Kettenreaktionen, z.B. in nuklearen Explosionen
– «Going viral» im Internet
– «Going viral» von Unternehmen
– Popularitätskurven von Showstars und Politikern

Grenzen des Wachstums:
Da in der Realität kein unbegrenztes Wachstum möglich ist, stösst ein exponentielles Wachstum immer an Grenzen, weil entweder die Ressourcen für weiteres Wachstum erschöpft sind, oder kein Raum für weitere Ausbreitung mehr vorhanden ist.  Oft bricht dann das Wachstum plötzlich und unerwartet ab.

Lineares und exponentielles Wachstum:
Wir tendieren dazu, Wachstum als linear, d.h. als gleichmässig anzusehen. Wachstum ist aber in vielen Gebieten exponentiell, was wir oft ausblenden. Weshalb ist das so? Wenn wir nur einen kleinen Zeitraum eines exponentiellen Wachstums anschauen, erscheint die Kurve linear, erst bei einer längeren Betrachtungsweise zeigt sich die exponentielle Steigung. Die Steigung kann zu Beginn sogar sehr  klein sein und  quasi vernachlässigbar erscheinen, doch das ist eine Täuschung, wenn das Wachstum exponentiell ist.

Mein Perpetuum mobile

Die  Erfindung

Ich habe ein Perpetuum mobile erfunden. Obwohl es schon lange her ist, kann ich mich noch genau daran erinnern. Ich war ungeheuer stolz darauf und konnte nicht verstehen, warum meine Umgebung mir meine einleuchtende Idee nicht abnahm.

Aufgrund der Details kann ich die Erfindung auch zeitlich genau datieren. Ich war damals zehn Jahre alt. Und wie bei jeder anderen Erfindung war es ein Zusammentreffen von zwei Beweggründen, die mir die Erfindung ermöglichten. Der eine Grund war das Ziel (Causa finalis) und der andere die formale Möglichkeit (Causa formalis), die es ermöglichte, das Ziel zu erreichen. Der Trick bei einer Erfindung besteht darin, die beiden Gründe zusammenzubringen, obwohl sie auf den ersten Blick gar nichts miteinander zu tun haben. Das war auch bei meiner Erfindung so.

Der Rasenmäher

Das Ziel (Causa finalis) war ein Rasenmäher. Mein Vater wollte einen anschaffen und ich hörte eine Diskussion darüber. Möglicherweise ging es darum, ob es ein benzingetriebener oder ein moderner elektrischer sein sollte. Jedenfalls erkannte ich eine dritte Möglichkeit. Hier kommt nun der zweite Grund, nämlich die Causa formalis zum Zug. Ich war zu der Zeit fasziniert von Zahnrädern (Wilber-Adepten:  das muss wohl das orange Mem gewesen sein) und kannte auch die Möglichkeit von gespannten Metallfedern. Das ermöglichte mir die Verbindung von Form und Ziel.

Ich hatte bereits begeistert eine Serie von ineinander greifenden Zahnräder verschiedener Durchmesser auf ein Papier gezeichnet, welche die Kraft einer gespannten Metallfeder übertrugen. Die Erfindung bestand nun darin, dass am Ende der Kraftübertragung eine zweite Metallfeder stand, die von der ersten angespannt wurde. Diese zweite Metallfeder hatte natürlich die Möglichkeit – über eine weitere phantastische Anordnung von Zahnrädern – die erste Feder zu spannen. Somit war die erste wieder bereit, über ihre Serie von Zahnrädern die zweite zu spannen – und so fort. Ein perfektes Perpetuum mobile. Ich verstand meinen Vater nicht, der es ablehnte, auf der Basis meiner genialen Idee einen Rasenmäher zu konstruieren. der weder Strom noch Benzin braucht.

Aber ich liess mich nicht beirren. Trotz diesem Rückschlag versuchte ich meine Idee weiter zu perfektionieren. Es war mir nämlich klar, dass das Konzept noch vereinfacht werden konnte. Es waren ja gar nicht alle Zahnräder nötig. Also erstellte ich eine neue Skizze. Und dann mit noch weniger Zahnräder eine weitere.  Ich kam gut vorwärts. Schliesslich gelang es mir, das Konzept auf eine einzige Achse mit zwei Metallfedern zu reduzieren. Die erste zog die zweite auf, die zweite dann wieder die erste. Genial einfach, nicht wahr?

In diesem Moment aber geschah etwas. Ich sah die Achse mit den beiden Metallfedern vor mir und mir wurde ganz gegen meinen Willen, aber auch ganz deutlich klar, dass das nicht funktionieren konnte. Ich sah die beiden Metallfedern auf der einen gemeinsamen Achse vor meinem geistigen Auge, wie sie ihre Kräfte gegeneinander ausspielten und sich schliesslich bei einem Kräftegleichstand trafen, und dass die Anlage in diesem Moment keinen Grund mehr hätte, sich in irgend einer Richtung zu bewegen. Es war bitter, aber meine Perpetuum mobile war gestorben.

Und die Lehre daraus?

Nicht alles, was sich super anfühlt, funktioniert auch. Aber dafür hatte ich ein anschauliches Beispiel für den Energieerhaltungssatz, das ich nicht so leicht vergessen konnte. Und noch ein weiteres Prinzip steckt in der Geschichte meiner gescheiterten Erfindung, nämlich das Parsimonitätsprinzip. Vermutlich kennen Sie den Namen nicht, aber das Prinzip kennen Sie bestimmt. Es handelt sich um ein allgemeines Konstruktionsprinzip, das besagt, dass man in Konstruktionen stets das Einfache suchen soll und alles überflüssige wegstreiche. Keep it simple, mit anderen Worten. Genau das hatte ich getan, als ich die überflüssigen Zahnräder wegstrich und nur noch die eine Achse mit den Federn behielt. Dadurch war es mir möglich, die Essenz meiner Erfindung zu erkennen – und gegen meinen Willen auch ihr Scheitern.

Parsimonitätsprinzip (nach Ockham)

Das Parsimonitätsprinzip ist auch unter den Namen Ökonomieprinzip und Ockham’s Razor bekannt. Wilhelm von Ockham (1288-1347) formulierte es so: «frustra fit per plura quod fieri potest per pauciora»  (Umsonst geschieht durch Mehreres, was sich mit Wenigem tun läßt ). Er wandte diesen Satz auf Begriffe an und plädierte dafür, die Zahl der Begriffe nicht ohne Notwendigkeit zu vermehren. Dem kann ich nur zustimmen.

Mein Vater hat übrigens einen elektrischen Rasenmäher gekauft.

Informationsreduktion (Übersicht)

Wollen wir möglichst wenig wissen?

Natürlich nicht, je mehr wir wissen, umso besser, werden Sie denken. Im Prinzip stimme ich Ihnen ja zu, doch so allgemein und absolut würde ich das nicht formulieren. Es gibt durchaus Details, die mich nicht interessieren und in meinem Kopf ist auch nicht unbeschränkt Platz.

Also muss ich haushalten. Dabei ist eine Reduktion der unmittelbar verfügbaren Informationsmenge hilfreich. Schon aus diesem Grund ist das Thema «Informationsreduktion» bedenkenswert. Bei näherem Hinsehen aber erweist sich der Gedanke, die Menge an Information zu reduzieren, nicht nur als nützlich in vielen praktischen Situationen, sondern vielmehr als eine Art Schlüssel dafür, wie wir mit Information sinnvollerweise umgehen. Dieser Schlüssel mag auf den ersten Blick absurd erscheinen, doch weniger ist oft mehr, und ich lade Sie gern zur Überlegung ein, weniger zu wissen um mehr zu wissen. Zum Thema Informationsreduktion also.

Informationsreduktion ist der Schlüssel für unseren Umgang mit Information

Zu dieser These habe ich die folgenden Internetbeiträge geschrieben:

IR1: Kodierung
Das ist mein persönlicher Einstieg ins Thema. Ich habe 1989 damit begonnen, Programme zu schreiben, um medizinische Diagnoseformulierungen von Rechnern kodieren zu lassen. Dabei wurde mir schnell klar: Diese Art Kodierung ist immer eine Informationsreduktion.  Und die Informationsreduktion macht Sinn. In der Zeit habe ich auch die vier Thesen zur Informationsreduktion bei der Kodierung formuliert.

IR2: Quantifizierung der Informationsreduktion
Das Ausmass der Reduktion der Datenmenge bei der Diagnosekodierung ist immens.

IR3: Informationsreduktion bedeutet Selektion
Sobald die Informationsmenge reduziert wird, stellt sich die Frage, welche Information behalten wird und welche verloren geht. Eine Frage der Selektion also. Gleichzeitig wird klar: Es sind unterschiedliche Selektionen möglich.

IR4: Framing
Informationsreduktion hat Konsequenzen. Hier ein Beispiel aus einem ganz anderen Gebiet, der Politik nämlich. Es zeigt, wie die Informationsreduktion und die entsprechende Selektion unsere Wahrnehmung bestimmen kann.

IR5: Informationsreduktion in der Physik
Das klassische Exempel für Informationsreduktion findet sich in der Wärmelehre. Wie hängt die Information über die Bewegungen der Moleküle in einem Wasserglas (genauer: in einem idealen Gas) mit der Information über die Temperatur zusammen? Die Antwort auf diese Frage führt über die Konzepte von Mikro- und Makrozustand.

IR6: Das Wasserglas, revisited
Die Überlegungen zum Wasserglas werden präzisiert.

IR7: Mikro- und Makrozustand
Der detailreichere Mikrozustand ist näher bei der Realität, aber der informationsärmere Makrozustand interessiert uns mehr. Die Unterscheidung von Mikro- und Makrozustand ist nicht nur in der Wärmelehre, sondern auch in der Informationstheorie anwendbar.

IR8: Unterschiedliche Makrozustände
In der Wärmelehre wird der Makrozustand vollständig vom Mikrozustand bestimmt. Ist das aber auch für andere Mikro-/Makrozustände so? Neben dem klassischen thermodynamischen Fall (wo das so ist) können zwei weitere beschrieben werden, in denen der Makrozustand wesentlich «eigenmächtiger» erscheint. In der Biologie zum Beispiel.

Das Prinzip der Notwendigkeit der Informationsreduktion ist vielfach begründbar. Siehe auch:


Informationsreduktion reduziert die Entropie. Siehe dazu auch die   -> Übersichtsseite Entropie


 

Informationsreduktion 8: Unterschiedliche Makrozustände

Zwei Zustände gleichzeitig

Im Vorbeitrag habe ich dargestellt, wie ein System auf zwei Ebenen beschrieben werden kann, auf der Ebene des Mikro- und auf der des Makrozustandes. Auf der Ebene des Mikrozustandes finden sich alle Detailinformationen, auf derjenigen des Makrozustandes finden sich weniger, dafür stabilere Informationen. Das klassische Beispiel ist das Wasserglas, wo der Mikrozustand die Bewegung der einzelnen Wassermoleküle beschreibt, der Makrozustand dafür die Temperatur der Flüssigkeit kennt. In diesem Beitrag möchte ich darauf eingehen, wie unterschiedlich die Beziehung zwischen Mikro- und Makrozustand sein kann.

Hängt der Makrozustand vom Mikrozustand ab?

Der Makrozustand ist informatisch, d.h. bezüglich seines Informationsgehaltes, zwar immer kleiner als der Mikrozustand, doch es stellt sich darüber hinaus die Frage, ob er überhaupt eine eigene Existenz hat. Ist er nicht einfach eine Folge des Mikrozustandes? Wie weit ist der Makrozustand durch den Mikrozustand wirklich determiniert? M.E. gibt es in dieser Hinsicht grosse Unterschiede. Das wird deutlich, wenn wir uns überlegen, wie wir die Zukunft der Systeme vorhersagen können:

Wasserglas

Wenn wir die Bewegungsenergien der vielen einzelnen Moleküle kennen, dann kennen wir auch die Temperatur. Das Wissen über den Mikrozustand erlaubt uns, den Makrozustand zu kennen. Wir wissen in diesem Fall auch, wie er sich weiterentwickelt. Wenn das System geschlossen bleibt, dann bleibt die Temperatur konstant. Der Makrozustand bleibt gleich, während im Mikrozustand jede Menge Informationen umher wuseln. Die Temperatur ändert sich erst, wenn Einflüsse von aussen dazu kommen, insbesondere Energieflüsse. Weshalb bleibt die Temperatur gleich? Der Grund liegt im Energieerhaltungssatz. Die Gesamtenergie des geschlossenen Systems bleibt gleich, somit bleibt auch der Makrozustand gleich, wie auch immer die Variablen im Mikrozustand sich ändern.

Weshalb aber gilt der Energieerhaltungssatz? Es bestehen enge Beziehungen zum Hamilton-Prinzip, dem Prinzip der kleinsten Wirkung. Das Hamilton-Prinzip ist eines der grundlegendsten Regeln in der Natur und gilt keinesfalls nur in der Thermodynamik.

Das geschlossene thermodynamische System ist ein ideales System, das so rein in der Natur kaum vorkommt. Es ist real immer nur eine Annäherung. Diesem abstrakten System möchte ich nun einige in der Natur wirklich vorkommende Systeme gegenüber stellen:

Wasserwellen und Bénard-Zellen

Dieser Typus System lässt sich als Welle auf einer Wasseroberfläche beobachten. In die gleiche Kategorie gehören für mich auch die Bénard-Zellen, über die Prigogine berichtet. In beiden Fällen entstehen die makroskopischen Strukturen als offene Systeme. Wellen und Zellen können nur durch äussere Einwirkungen entstehen, nämlich durch den Temperaturgradienten und die Gravitation bei den Bénard-Zellen und den Wind und die Gravitation bei den Wasserwellen. Die Strukturen entstehen durch das Einwirken dieser äusseren Kräfte, die in ihrem Zusammenspiel die makroskopische Strukturen entstehen lassen, welche interessanterweise über längere Zeit bestehen bleiben. Das Fortbestehen dieser Strukturen erstaunt. Weshalb behält die Welle ihre Form, obwohl immer wieder andere Materieteilchen ihre Grundlage bilden?

Im Unterschied zum isolierten thermischen System sind die in solchen offenen Systemen gebildeten makroskopischen Strukturen wesentlich komplexer. Einander gegenläufige Kräfte von aussen lassen völlig neue Formen – Wellen und Zellen – entstehen. Die äusseren Kräfte sind nötig, damit die Form entstehen und fortdauern kann, aber die entstandene makroskopische Form selber ist neu und nicht bereits in den informatisch (d.h. bezüglich Informationsgehalt) sehr einfachen äusseren Kräften angelegt.

Gleich wie im thermischen System haben wir neben der Makroebene der einfachen äusseren Form (Zelle oder Welle) eine Mikroebene mit den vielen Molekülen, welche z.B. die Form bilden. Und wieder ist die Makroebene, also die Form informatisch wesentlich einfacher als die Mikroebene der vielen Moleküle. Die Welle bleibt in ihrer Form über längere Zeit erhalten, während die vielen Moleküle, die sie bilden, sich wild durcheinander bewegen. Die Welle läuft weiter und erfasst neue Moleküle, welche jetzt die Welle bilden. In jedem Moment erscheint die Form, d.h. das Zusammenkommen des Makrozustandes aus den einzelnen Molekülen vollständig determiniert, aber informatisch viel einfacher erklärbar als durch die vielen Einzelmoleküle ist die Form auf der Makroebene selber, nämlich als einfache Fortsetzung der Welle, einfach mit neuen Molekülen auf der Mikroebene. Es sieht so aus, als wäre der neue Makrozustand am besten erklärbar durch den alten.

Im Gegensatz zu höher entwickelten Formen gilt bei Wasserwellen und Bénard-Zellen: Sobald die Kräfte von aussen nachlassen, verschwindet die Form. Unser Leben ist wie jedes organische aber darauf angewiesen, dass die Formen nicht so schnell verschwinden. Das bedeutet: Der Makrozustand muss gegenüber dem Mikrozustand gestärkt werden.

Der Thermostat

Wir können den Makrozustand stärken, indem wir ihm eine Steuerung beigeben. Denken Sie an eine Heizung mit einem Temperaturfühler. Sobald es kalt wird, wird geheizt, wenn die Temperatur zu hoch wird, hört das Heizen auf. Auf diese Weise wird die Temperatur, d.h. der Makrozustand konstant gehalten. Natürlich ist dieses Heizungssystem thermodynamisch alles andere als geschlossen. Und Temperaturfühler und Steuerung zur Unterstützung und Konstanthaltung des Makrozustandes sind vom Menschen gebaut, entstehen also nicht wie die Wasserwellen auf natürliche Weise. – Oder gibt es so etwas auch in der Natur?

Autopoese und Autopersistenz

Natürlich gibt es solche Steuerungen auch in der Natur. Während meines Medizinstudiums war ich beeindruckt von den vielen und komplexen Steuerungskreisen im menschlichen Organismus. Steuerung hat immer mit Information zu tun. Das Medizinstudium hat mir nahegelegt, Information als wesentlichen Bestandteil der Welt anzusehen.

Man nennt die automatische Entstehung der Welle oder der Bénard-Zelle Autopoese. Welle und Zelle sind aber nicht beständig, die biologischen Organismen jedoch schon, jedenfalls wesentlich beständiger als es die Welle ist. Dies geschieht mit Hilfe von Steuerungen, die Teile des Organismus selber sind. Man muss sich das so vorstellen, als ob eine Welle realisiert, dass sie völlig vom Wind abhängig ist und darauf reagiert, in dem sie die Quelle ihrer Existenz (ihre Nahrung, den Wind) aktiv sucht, bzw. in sich eine Struktur schafft, die seine Energie für die schlechten Zeiten konserviert, wo es nicht weht.

Genau das tut der Körper, jeder biologische Körper. Er ist ein Makrozustand, der sich selber erhalten kann, indem er über Steuerungsvorgänge seinen Mikrozustand kontrolliert und auf die Umwelt reagiert.

Biologische Systeme

Diese Art System unterscheidet sich von isolierten thermischen Systemen durch seine Fähigkeit, Formen entstehen zu lassen und von einfachen, zufällig entstehenden natürlichen Formen wie einer Wasserwelle durch seine Möglichkeit, die Form aktiv überleben zu lassen. Dies ist möglich, da solche biologischen Systeme auf die Umgebung mit dem Ziel reagieren können, ihr Überlebens zu sichern. Von den einfacheren autopoietischen Systemen unterscheidet sich ein biologisches System durch eine länger andauernde Formkonstanz dank komplexen inneren Steuerungen und eine gezielte Aktivität gegenüber der Umgebung.

Damit die Formkonstanz möglich ist, braucht es ein wie immer geartetes Gedächtnis, das das Muster bewahrt. Und um auf die Umgebung gezielt zu reagieren, hilft eine wie immer geartete Vorstellung über diese Aussenwelt. Beides, das Gedächtnis für das eigene Muster und die wie auch immer vereinfachte Vorstellung über die Aussenwelt müssen im biologischen System informatisch fixiert sein, sonst kann die Formkonstanz nicht erhalten werden. Das biologische System hat somit einen wie immer gearteten informatischen Innenraum.

Biologische Systeme sind wegen den oben beschriebenen Eigenschaften immer interpretierende Systeme.


Dies ist ein Beitrag aus der Serie Informationsreduktion.

Informationsreduktion 7: Mikro- und Makrozustand

Beispiele von Informationsreduktion

In den bisherigen Texten haben wir Beispiele von Informationsreduktion in folgenden Gebieten angesehen:

  • Kodierung / Klassifizierung
  • Sinneswahrnehmung
  • Fallpauschalen
  • Meinungsbildung
  • Wärmelehre

Was ist gemeinsam?

Mikro- und Makrozustand

Allen diesen Beispielen ist gemeinsam, dass wir bezüglich Informationen zwei Zustände haben, einen Mikrozustand mit vielen Details und einen Makrozustand mit wesentlich weniger Information. Sehr anschaulich und den meisten noch aus der Schule bekannt, ist das Verhältnis der beiden Ebenen in der Wärmelehre.

Beide Zustände existieren gleichzeitig. Sie betreffen weniger das betrachtete Objekt, als vielmehr die Sichtweise des Betrachters. Will er viel wissen? Oder weniger? Oder gar nur die Essenz, beziehungsweise das, was für ihn die Essenz darstellt? Je nach dem richtet sich sein Blick mehr auf die vielen Details des Mikrozustandes oder die einfache Information des Makrozustandes.

Mikro- und Makrozustand in der Informationstheorie

Die Bedeutung von Mikro- und Makrozustand wurde zuerst in der Wärmelehre erkannt. Meines Erachtens handelt es sich aber um ein ganz allgemeines Phänomen, das eng mit dem Prozess der Informationsreduktion verknüpft ist. Insbesondere bei der Untersuchung von Informationsverarbeitung in komplexen Situationen ist es hilfreich, die beiden Zustände zu unterscheiden.
Überall dort, wo die Informationsmenge reduziert wird, kann ein Mikro- und ein Makrozustand unterschieden werden. Dabei ist der Mikrozustand derjenige, der mehr Information enthält, beim Makrozustand ist die Informationsmenge reduziert.

Der detailreichere Mikrozustand gilt als «realer»

Je mehr Details wir sehen, umso besser glauben wir eine Sache zu erkennen. Deshalb sehen wir den detailreichen Mikrozustand als die eigentliche Realität an. Der Makrozustand ist dann entweder eine Interpretation oder eine Konsequenz des Mikrozustandes.

… aber der informationsarme Makrozustand interessiert mehr

Bemerkenswerterweise sind wir am informationsarmen Zustand aber mehr interessiert als am Mikrozustand. Die vielen Details des Mikrozustandes sind uns zu viele. Entweder sind sie uninteressant (Wärmelehre, Sinneswahrnehmung) oder sie verhindern die gewünschte klare Sicht auf das Ziel, für das der Makrozustandes steht (Kodierung, Klassifizierung, Meinungsbildung, Fallpauschalen).

Seltsamer Antagonismus

Es besteht somit ein seltsamer Antagonismus zwischen den beiden Zuständen: Während wir den einen als realer ansehen, sehen wir den anderen als für uns relevanter an. So als stünden real und relevant im Gegensatz zueinander. Je realer, d.h. detailreicher die Sichtweise wird, umso irrelevanter erscheint die einzelne Information, und je intensiver die Sichtweise sich um Relevanz bemüht, umso mehr löst sie sich von der Realität. Dieses paradoxe Verhältnis von Mikro- zu Makrozustand ist charakteristisch für alle Verhältnisse von Informationsreduktion und zeigt die Bedeutung aber auch die Herausforderung, die solche Prozesse an sich haben.

Gibt es Unterschiede zwischen den informationsreduzierenden Prozessen?

Auf jeden Fall. Gemeinsam ist ihnen nur, dass eine Darstellung auf einer detailreichen Mikro- und informationsarmen Makroebene möglich ist und die Makroebene meist relevanter ist.

Solche Prozesse beinhalten immer eine Informationsreduktion, aber die Art, wie reduziert wird, unterscheidet sich. Es ist nun äusserst erhellend, die Unterschiede genauer zu untersuchen. Die Unterschiede spielen nämlich entscheidend in viele Belange hinein. Mehr dazu im Fortsetzungsbeitrag.


Dies ist ein Beitrag zu einer Serie über Informationsreduktion. Der vorhergehende Beitrag beschäftigte sich mit Informationsreduktion in der Wärmelehre.